Titelbild zum Artikel Schweiz–EU: Stabilität und Weiterentwicklung der Beziehung oder Distanzhalten?

Staatssekretär Alexandre Fasel v/o Heuer und Dominik Feusi v/o Caritas, stellvertretender Chefredaktor und Bundeshauschef des «Nebelspalters».

14.11.2025

Schweiz–EU: Stabilität und Weiterentwicklung der Beziehung oder Distanzhalten?

Am Mittwoch, 22. Oktober 2025, lud die Politische Kommission (PK) des Schweizerischen Studentenvereins zum Polit-Talk ins Bundeshaus ein. Zu Gast waren Staatssekretär Alexandre Fasel v/o Heuer und Dominik Feusi v/o Caritas, stellvertretender Chefredaktor des «Nebelspalters».

Moreno Christen v/o Strikt
 

Unter dem imposanten Glasdach des Bundeshauses und mit Blick auf das abendliche Bern diskutierten 80 StVerinnen und StVer im Rahmen des Polit-Talks vom 22. Oktober 2025, organisiert von der Politischen Kommission des Schweizerischen Studentenvereins (Schw. StV), über eines der zentralen Themen der kommenden Legislatur: das Abkommenspaket zur Stabilisierung und Weiterbildung der bilateralen Beziehungen Schweiz–EU.

Zu Gast waren Staatssekretär Alexandre Fasel v/o Heuer (Zentralpräsident des Schw. StV 1986/87), der durch seine Arbeit im EDA Einblick in die Verhandlungen hat, und Dominik Feusi v/o Caritas (Zentralpräsident 1999/2000), stellvertretender Chefredaktor und Bundeshauschef des «Nebelspalters». 

Nach der Begrüssung durch PK-Präsident Philipp Mazenauer v/o Avis führte der Abend direkt in medias res. Fasel v/o Heuer begann seine eröffnenden Ausführungen mit einer Anmerkung zum Fundament der Schweizer Europapolitik: «Die Schweiz kann immer nur tun, worauf man sich einigt.» Diese Haltung der gegenseitigen Achtung und des Wohlwollens sei nicht nur ein Erfolgsrezept für den Schw. StV, sondern auch für die Diplomatie und das Land im Allgemeinen.

Heuer v/o Fasel erinnerte daran, dass die europapolitische Linie der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg bemerkenswert konsistent geblieben sei – stets mit dem Ziel, den wichtigsten Absatzmarkt des Landes nicht zu verlieren. Europa sei und bleibe der eigentliche Heimmarkt der Schweiz: «Der Warenverkehr mit der EU beträgt 300 Milliarden Franken, mit den USA 60 Milliarden, mit China 30 Milliarden. Wir diversifizieren unsere Wirtschaftsbeziehungen in der ganzen Welt, doch faktisch ist Europa unser wirtschaftliches Rückgrat.» Das aktuelle geopolitische Umfeld schafft eine Welt von Einflusssphären – Amerika, Russland, China –, in der Staaten, die wie die Schweiz nicht in deren unmittelbaren Bereich stehen, sich zu positionieren haben. Heuer v/o Fasel: «Wir haben die Politik unserer Geographie.» Neutralität sei kein Stillstand, sondern ein Balanceakt.

Nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Institutionellen Abkommen 2021 habe der Bundesrat neu angesetzt: Das vorliegende Abkommenspaket stabilisiere die bestehenden Abkommen und schliesse neue sektorielle Verträge in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit ein. Das Parlament werde voraussichtlich im Frühjahr 2026 darüber beraten beginnen, eine Volksabstimmung sei – je nach Verlauf – in der laufenden Legislatur zu erwarten. «Der Bundesrat versteht das Paket als Ganzes», so Fasel v/o Heuer. Es könnte aber auch in einzelne Teile aufgeteilt werden. Dieses Paket sei kein Bruch mit der Vergangenheit, sondern die Fortführung einer konstanten Politik: Stabilität und Marktbeteiligung sichern, ohne die Souveränität aufzugeben. Sollte das Abkommenspaket an der Urne abgelehnt werden, behielten wir die aktuellen Verträge, aber es gäbe keine neuen. Hierin sieht Fasel v/o Heuer die Gefahr einer schleichenden Erosion: «Wir würden langsam aus dem Binnenmarkt herausfallen.»

Dominik Feusi v/o Caritas erinnerte an die Ursprünge der heutigen Situation. Wir Schweizer hätten Brüssel den EU-Beitritt versprochen – «irgendwann» und dieser sei «viel weiter weg als wir dachten». Nachdem man dies 2007 merkte, beschloss man, die     Beziehungen zu institutionalisieren. Bereits 2013 habe die Schweiz in einem «Non-Paper» mit der EU festgehalten, wie Streitfragen künftig gelöst werden könnten. «Damals wurde der Europäische Gerichtshof als Schlichtungsinstanz akzeptiert – das war, rückblickend, der Kardinalfehler.» Feusi v/o Caritas betonte, dass der wirtschaftliche Nutzen solcher Abkommengemäss bundesrätlicher Studie nicht gross sei: «Gemäss Berechnungen liegt der Mehrwert über zwanzig Jahre bei rund 0,48 Prozent des BIP – das ist messbar, aber gering.» Der politische Preis hingegen könne hoch sein: «Die Übernahme von EU-Recht und ein Streitbeilegungsverfahren mit dem EU-Gerichtshof verändern die Entscheidungsmechanismen unseres Landes und damit auch unsere direkte Demokratie.» Feusi v/o Caritas verwies auf Bundesrat Ignazio Cassis, der einmal gesagt habe, die Demokratie bleibe unberührt – in einem anderen Interview jedoch einräumte, dass Konflikte mit EU-Recht künftig im Abstimmungsbüchlein erwähnt werden müssten. «Das ist kein Detail», so Feusi v/o Caritas, «sondern der Punkt, an dem man sich entscheiden muss, ob man Herr im eigenen Haus bleiben will». Sollte es an der Urne zu einem «Nein» kommen, wäre das gemäss Feusi v/o Caritas mit dem Nein zum EWR-Beitritt 1992 vergleichbar. Es werde dann wohl «einige Jahre rumpeln, aber man wird sich finden». 

Alexandre Fasel v/o Heuer schätzt die Zeit nach dem EWR-Nein anders ein: «Wir erinnern uns, nach dem EWR-Nein folgte ein Jahrzehnt Stagnation. Ich bin nicht sicher, ob wir uns dies nochmals leisten können.» Im Angesicht der aktuell volatilen Weltlage seien gute Beziehungen besonders wichtig und in dieser Hinsicht müsse man das Abkommenspaket ganzheitlich betrachten. 

Im Zuge der Fragerunde kam zudem die Kohäsionsmilliarde ins Gespräch. Wieso müsse die Schweiz diese bezahlen, wenn sie gleichberechtigte Partnerin sei? Fasel v/o Heuer zog den Vergleich zum Finanzausgleich in der Schweiz: «Alle, die am Binnenmarkt teilnehmen, haben ein Interesse, dass die schwächeren Volkswirtschaften erstarken und der Binnenmarkt sein Potenzial ausschöpfen kann. Der Kohäsionsbeitrag ist keine Strafzahlung, sondern ein Beitrag zur guten Entwicklung der schwächeren Marktteilnehmer, die dann zu besseren Kunden werden.» Für Feusi v/o Caritas ist die Kohäsionsmilliarde vergleichbar mit Donald Trumps Zöllen.

Im Verlauf der angeregten Diskussion wurde der Grundkonflikt sichtbar: Wird Souveränität begriffen als Eingehen tragfähiger Bindungen mit der EU im gegenseitigen Interesse oder als Distanzhalten der EU gegenüber? Fasel sieht in einem «Nein» zum Paket die Gefahr einer schleichenden Erosion. Feusi v/o Caritas hielt dagegen, dass es nach dem EWR-Nein auch gerumpelt habe, doch dass sich die Beziehungen zur EU normalisiert hätten. Er betonte, dass die Schweiz besser auf Freihandel ohne Rechtsübernahme setze. Beide waren sich einig, dass die Schweiz in einer zunehmend fragmentierten Welt nur bestehen kann, wenn sie verlässliche Beziehungen pflegt – und sich gleichzeitig ihrer eigenen Institutionen bewusst bleibt. Fasel v/o Heuer schloss mit den Worten: «Das Risiko, dass unser Gemeinwesen Schaden nimmt, ist grösser, wenn wir nichts tun.» 

Beim anschliessenden Apéro in der Galerie des Alpes setzten sich die Gespräche angeregt fort – ganz im Geiste des Schw. StV.

Fotos: Sascha Staub v/o Kultur

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