Titelbild zum Artikel «Wir sind der Ort der Debatte über dieses Land»

Dominik Feusi v/o Caritas, alt-CP und stellvertretender Chefredaktor beim «Nebelspalter», hielt am GV-Sonntag, 24. August 2025, die Festrede auf dem Dorfplatz Sarnen. (Foto: Morgane Baumgarten v/o Thalassa)

03.09.2025

«Wir sind der Ort der Debatte über dieses Land»

--- Disponible uniquement en allemand ---

 

Zentralfest Sarnen 2025: Festrede von Dominik Feusi v/o Caritas am GV-Sonntag, 24. August 2025, auf dem Dorfplatz Sarnen. Es gilt das gesprochene und das geschriebene Wort.

Hohe Zentralpräsidentin,
Hohes Zentralkomitee,
Verehrte Veteranen,
liebe Gäste und Freunde aus Nah‘ und Fern,
Liebe Stverinnen und StVer!

 

Es gibt jene, die das, was wir hier feiern, für veraltet, für überholt betrachten. Der StV, sagen sie, habe seine historische Aufgabe erfüllt. Nichts könnte falscher sein. Die Schweiz braucht den StV! Heute wieder ähnlich stark wie in der Gründungszeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Warum?

Ich weiss, Patriotismus ist heute nicht mehr in Mode. Aber wir sind der «Schweizerische Studentenverein», und deshalb gehört das Bekenntnis zu unserem Land zu uns wie das Bier zum Zentralfest. Wir dürfen den Patriotismus nicht jenen überlassen, die nichts Gutes damit vorhaben. Aber wie geht Patriotismus heute?

Wir sollten uns zuerst darauf einigen können, dankbar zu sein. Dankbar dafür, in einem Land zu leben, das uns allen mehr Chancen auf ein freies, sicheres und gutes Leben gewährt als alle anderen Länder.

Nous n'avons pas travaillé pour obtenir ce bonheur. Il nous a été offert en cadeau. Nous devrions en être reconnaissants. Cette gratitude doit  aussi nous inciter à tout mettre en oeuvre pour que ce bonheur perdure. Pour que les générations futures puissent elles aussi mener une vie libre et sûre et, surtout, qu'elles puissent  exploiter  leurs talents et réaliser leurs rêves sans avoir à demander l'autorisation à des bureaucrates ou politiciens. 

Das ist die Essenz dieses Landes: Eine offene und freie Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger, die ihr Leben in die eigenen Hände nehmen, ein Land wo sich die Bürger zuerst einmal selbst regieren und nicht regiert werden. Die Schweiz ist eine Republik, eine «res publica» im Wortsinn. Wie wir leben, wie wir uns organisieren, ist die Sache der Bürgerinnen und Bürger. 

Das hat seinen tieferen Grund, und der ist höchst modern: Die Schweiz ist das Land der Vielfalt, bevor irgend jemand von «Diversity» zu reden begonnen hat. Wir sind eben kein Nationalstaat mit einheitlicher Sprache, Religion oder Kultur. Wir sind ein Flickenteppich der Menschen, die hier leben. Genau deshalb hatten es Zentralstaat und Regierung von oben über die Bürger hier immer schwer. Fragt mal Napoleon. Auch er ist daran gescheitert, hier in der Innerschweiz! 

Wir sind nicht das Land der Politiker, sondern das Land der Einzelnen. Wir sind das Land der individuellen Chancen, der Selbstverwirklichung der Menschen – und damit des Unternehmertums. Wer hierher kommt, der kann etwas aus sich machen. 

Angesichts der zunehmenden Vielfalt im globalisierten 21. Jahrhundert könnte nichts moderner sein als diese sich selbst regierende Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger. Dieser Staatsaufbau von unten nach oben steht in der Tradition der Aufklärung. Er ist moderner als repräsentative Demokratien, in denen Menschen nur alle vier oder fünf Jahre Abgeordnete und vielleicht einen Präsidenten wählen und dann regiert werden. 

Warum sind denn die Romands keine Franzosen, die Tessiner und die italienischsprechenden Bündner keine Italiener und die Deutschschweizer keine Deutschen? Ein grosser Diplomat dieses Landes, Botschafter Paul Widmer, hat zwei Gründe dafür ausfindig gemacht: Erstens wissen wir alle, dass wir als Schweizer mehr persönliche Freiheit geniessen, als wenn wir Italiener, Franzosen oder Deutsche wären. Und zweitens haben wir hier mehr politische Mitbestimmung als in irgend einem unserer Nachbarländer. Es sind diese beiden Errungenschaften – Freiheit und Mitbestimmung – die dieses Land zusammenhalten.

La participation ne se limite pas aux assemblées communales, aux élections et aux votations, mais englobe toutes les institutions et l'ensemble du processus politique, de la consultation à la démocratie référendaire. Elle s'est avérée être une chance pour ce pays, voire un garant de sa cohésion. Personne ne le sait mieux que les minorités de ce pays. Quelques fois les minorités doivent faire un peu plus de bruit pour être entendues, mais dans notre système elles ont toujours voix au chapitre.

Weil die Institutionen und der politische Prozess so wichtig sind für den Zusammenhalt des Landes, müssen wir Verträge, die einen institutionellen Rahmen mit politischen Verpflichtungen enthalten, besonders genau begutachten. Sobald es um die Institutionen geht, geht es nicht mehr nur um Wirtschaftsbeziehungen, sondern um die Schweiz als Ganzes. Es steht viel auf dem Spiel. 

Diese sich selbst regierende Gesellschaft ist (fast) ein Sonderfall: Ich weiss, die USA sind derzeit nicht gerade beliebt in unserem Land. Zu Recht. Aber die USA und die Schweiz sind die einzigen beiden Länder, in denen eine aufklärerische Revolution nicht zu Terror und Krieg geführt hat (wie zum Beispiel in Frankreich im 18. und 19. oder in Deutschland im 20. Jahrhundert), sondern zu einer sich selbst regierenden Gesellschaft der Freien.

Als Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA von einem Bürger gefragt wurde, was das denn für ein Staat werde, der da entstehe, sagte er: «A Republic if you can keep it.» Dieser Satz hätte auch einer der Gründerväter der Schweiz sagen können. Dieses Land gibt es nur so lange, wie wir ihm Sorge tragen.

Niemand versteht das so wie wir, die Mitglieder des Schweizerischen Studentenvereins. Wir wurden 1841 mit diesem Namen gegründet, sieben Jahre vor dem Bundesstaat (aCP Peter Jäggi v/o Bambus).

Wer wenn nicht wir, trägt auch im 21. Jahrhundert Sorge zu diesem Land, in dem wir das Glück haben zu leben? Wer, wenn nicht wir, setzt sich dafür ein, dass dieses Land auch künftigen Generationen die Chancen bietet, die wir geniessen dürfen?

Ja, es lohnt sich, «den Riesenkampf zu wagen». Ja, es ist richtig, «für Recht und Eigentum in den Kampf zu gehen». Wir werden das im 21. Jahrhundert mehr tun müssen als uns lieb ist. Die Autokraten sind in der Mehrheit. Sie stehen mit Panzern in der Ukraine, schlachten Juden ab im Nahen Osten, morden im Sudan, unterwandern Europa mit Terrorideologien und unterdrücken Menschenrechte in chinesischen Provinzen – und sie bilden die Mehrheit in der Generalversammlung der Vereinten Nationen. 

Wir haben den Einsatz für Recht und Freiheit womöglich verlernt. Im Kalten Krieg war klar, zu welchem Block wir gehören. Wir mussten nichts für die Prinzipien der offenen Gesellschaft tun. Und die Eliten unseres Landes haben sich im Fahrwasser der freien Welt auf den wirtschaftlichen Erfolg konzentriert. Die politischen Prinzipien gingen vergessen. Die CVP, die sich heute Mitte nennt, hat vergessen, dass sie die Partei der Institutionen, des Föderalismus und der direkten Demokratie war. Die FDP reduzierte ihren Liberalismus auf wirtschaftliche Freiheit und die SVP unterwirft alles dem nächsten Wahlerfolg, selbst eigene Prinzipien.

Und die Sozialdemokraten haben sich von der Juso unterwandern lassen. Denen ist ideologischer Sozialismus wichtiger als die Erfolgsrezepte unseres Landes. Darum haben die roten Wohlstandsvernichter auch so Mühe mit einem Ständerat in ihren Reihen, der gemäss eigenen Worten SPler geworden ist, um «Armut zu bekämpfen, und nicht, um Reichtum zu bekämpfen» (Daniel Jositsch).

Ich bin jedoch überzeugt, dass wir die Verteidigung von Recht, Freiheit und Demokratie nicht einfach der Politik überlassen sollten. Diese offene und freie Gesellschaft lebt von den Bürgerinnen und Bürgern, den Netzwerken, die sie bilden, von den Institutionen, die daraus entstehen. 

Dieser Staat lebt von Grundlagen, die er nicht selbst erschaffen kann (Ernst-Wolfgang Böckenförde), von Werten, Umgangsformen, Anstand und Kultur, die nicht mit Gesetzen vorgeschrieben werden können, sondern von gesellschaftlichen Institutionen gepflegt und weiter gegeben werden müssen: von der Familie, von der Schule, von Vereinen und von Verbindungen, aber auch von Unternehmern, Politikern, Künstlern und – ich sage es bewusst – von Medien. Und ganz besonders auch von der Kirche, die, so scheint es mir, dies leider weitgehend aus den Augen verloren hat.

Der Schweizerische Studentenverein ist so ein Netzwerk. Er ist so eine Institution. Was ist dann unsere Aufgabe?

Wir sind der Ort der Debatte über dieses Land, wir sind der «interdisziplinäre und überparteiliche Stammtisch», an dem über dieses Land gestritten wird, um unseren Neo-Bundesrat Martin Pfister v/o Janus zu zitieren (Neujahrskommers 2018). Wir sind «Übungsfeld für die Konkordanz, die Kollegialität und die Demokratie gemeinhin». 

Ich könnte es nicht besser sagen. Das ist unsere bleibende historische Aufgabe, weil wir nicht irgendein Verein, sondern der «Schweizerische Studentenverein» sind. So habe ich das als Fux gelernt. So habe ich das persönlich erlebt und so habe ich das gepflegt und tue es weiterhin. Darum: Wer sich der Diskussion, dem Stammtisch verweigert, der begibt sich ausserhalb der Grundlagen dieses Vereines.

Die grösste Gefahr für die offene Gesellschaft sind Bürgerinnen und Bürger, die relativistisch alles für irgendwie gleich richtig erachten, die Debatte verweigern oder einfach nicht mehr teilnehmen, den Stammtisch verlassen. Mit ihnen können Politiker machen, was sie wollen. Sie sind das «ideale Subjekt einer totalitären Gesellschaft» (Hannah Arendt).

In einer offenen Gesellschaft sind wir zuerst Individuen, jeder einmalig und jede ausgerüstet mit Grund- und Menschenrechten, die er hat, weil er Mensch ist – nicht weil sie ihm vom Staat geschenkt werden.

Deshalb lehne ich den «woken Zeitgeist» ab. Da ist jeder zuerst und generell Mitglied eines Kollektivs: eines Geschlechts (oder keines), einer Hautfarbe, einer Religion oder irgendeiner anderen Gruppe. Und diese Gruppen werden dann moralisch in Schuldige oder Unschuldige eingeteilt. Wer das Individuum durch das Kollektiv ersetzt, die individuellen Freiheits- und Grundrechte durch über das Kollektiv zugeteilte Schuld oder Unschuld, geht zurück hinter die Aufklärung, hinter die Befreiung der Menschen aus ihrer «selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Immanuel Kant), zurück in die Barbarei von Gruppenschuld und Kollektivbestrafung.

Auch aus diesem Grund braucht es den «Riesenkampf mit dieser Zeit». Es geht im 21. Jahrhundert nicht nur um die Verteidigung von Recht und Freiheit, sondern viel grundsätzlicher um die Rettung des Individuums vor den neusten Versuchen, Menschen in Schubladen zu stecken und sie dann abzuurteilen. Wer eine Schweiz will, deren Bewohner ihre Talente und Träume ausleben können, der muss da etwas dagegen haben. 

«Gegen braune und rote Fäuste» ist das Motto des Nebelspalters. Es könnte auch das Motto des Schweizerischen Studentenvereins sein. 

Ils sont nombreux les prétendus défenseurs de la modernité à avoir méprisé, taxé de « ringardes » voire d’extrémiste des sociétés d’étudiants comme la SES. Mais nous avons montré que nous incarnons cette modernité et que nos valeurs sont autant de points cardinaux dans une époque de la déraison). Plutôt que d’enfermer les individus dans des catégories d’origine, de genre, de minorité ou autre identité inventée comme le fait la mode « wokiste », la SES incarne cette unité dans la diversité, « diese Einheit in der Vielfalt » ce respect des minorités et surtout cette capacité à échanger sans mépris ni arrogance, parfois de manière musclée et souvent de manière houblonnée. Toujours dans la fraternité et l’amitié. 

Die Schweiz braucht den StV. Mehr denn je, jeden Einzelnen von Euch als Bürgerin und Bürger dieses Landes, als Teilnehmerin und Teilnehmer an den Stammtischen der Nation, im StV, sei es im Regionalverband oder bei den Aktiven, in Eurem Beruf, in Politik und in der Kirche. 

So geht Patriotismus heute. So geht StV in Zukunft!

Diese Rede hielt Dominik Feusi v/o Caritas, alt-CP und stellvertretender Chefredaktor beim «Nebelspalter», am GV-Sonntag, 24. August 2025, auf dem Dorfplatz Sarnen. Es gilt das gesprochene und das geschriebene Wort.

 

Fotos: Andreas Waser v/o Loop (Slider 1), Morgane Baumgarten v/o Thalassa (Slider 2).

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