Titelbild zum Artikel «Echte Begegnung statt digitaler Distanz»

Marina Glaninger v/o Ambivalla begrüsst die Kandidatinnen und Kandidaten am GV-Samstag, 23. August 2025, auf dem Dorfplatz Sarnen. (Foto: Morgane Baumgarten v/o Thalassa)

02.09.2025

«Echte Begegnung statt digitaler Distanz»

Zentralfest Sarnen 2025: Rede der Zentralpräsidentin Marina Glaninger v/o Ambivalla im Rahmen der Kandidatenaufnahme am GV-Samstag, 23. August 2025, auf dem Dorfplatz Sarnen.

Werte Kandidaten, 
Chers Candidats,
Liebe StVerinnen und StVer,
Chers membres de la SES,

 

Neulich Abend habe ich einen kurzen Ausschnitt aus einem Video gesehen, in dem ein französischer Moderator den russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn (1918–2008) interviewt. Das Video stammt aus dem Jahr 1998, und der Moderator fragt ihn, wie er das 21. Jahrhundert einschätzt. Der Schriftsteller nimmt daraufhin einen ernsten Gesichtsausdruck an und erklärt, was ihm Angst macht:

Im Wesentlichen sorgt er sich um kommende Tragödien, aber nicht in dem Sinne, wie wir es verstehen. Er sieht die grösste Tragödie in einem Prozess, der zu seiner Zeit bereits begonnen habe und den er wie folgt zusammenfasst. Seine Befürchtung ist, dass der kulturelle Typus des Menschen, wie wir ihn seit Jahrhunderten kennen, dabei ist, zu einem technogenen Menschen zu degenerieren. Im Menschen vollzieht sich also eine psychologische Veränderung, die biologisch werden könnte.

Der Mensch, wie wir ihn kennen, war immer das Subjekt der Geschichte; heute verwandelt er sich in einen Splitter des technischen Fortschritts. Der technische Fortschritt hatte über Jahrhunderte hinweg immer dazu tendiert, die Natur zu beherrschen, sie zu beeinträchtigen. Heute jedoch beginnt dieser technische Fortschritt, die Kultur und den Menschen zu beeinträchtigen. Dieses technische Element nimmt dem Menschen seine Persönlichkeit, seine Seele. Hier findet eine psychologische Veränderung statt. Vor unseren Augen verlieren wir unsere Konzentration, unser Denkvermögen und auch eine Form von Pragmatismus. Stattdessen erhalten wir einen Strom von Informationen, der das Leben unserer Seele ersetzt.

Wir leben in einer Zeit, in der Kommunikation schneller, einfacher und gleichzeitig oberflächlicher geworden ist. Ein Like auf LinkedIn ersetzt das Schulterklopfen, ein Smiley auf WhatsApp das echte Lächeln, und ein Swipe auf Tinder das Kennenlernen mit Blickkontakt. Wir sind ständig verbunden – und doch oft einsam. Der persönliche Austausch, das echte Gespräch, das Zuhören und Verstehen – all das droht verloren zu gehen.

In dieser digitalen Welt verlernen wir nicht nur die Regeln der Kommunikation, sondern auch den Anstand, das Mitgefühl und die Empathie. Likes und Follower bestimmen den Wert eines Menschen – nicht mehr seine Haltung, seine Wärme oder seine Worte. Die Gesellschaft wird kühler, distanzierter und die Herzlichkeit scheint zu verblassen.

Le progrès technique, en particulier dans le monde des communications, a rendu la vie de l’homme plus confortable, mais également plus pressée. Au cours des dernières décennies le développement des médias a diffusé et amplifié un phénomène : la virtualité qui risque de dominer sur la réalité. Toujours plus, même sans s’en apercevoir, les personnes sont plongées dans une dimension virtuelle, à cause de messages audiovisuels qui accompagnent leur vie du matin au soir. Les plus jeunes semblent vouloir remplir de musique et d’images chaque moment vide, presque par peur de sentir, précisément, ce vide. Il s’agit d’une tendance qui a toujours existé, en particulier parmi les jeunes et dans les contextes urbains les plus développés, mais aujourd’hui celle-ci a atteint un niveau tel qu’il faut parler de mutation anthropologique. 

Nous sommes constamment connectés, mais souvent seuls. Les échanges personnels, les vraies conversations, l'écoute et la compréhension : tout cela risque de disparaître.

Dans ce monde numérique, nous désapprenons non seulement les règles de la communication, mais aussi la courtoisie, la compassion et l'empathie. Les « likes » et les « followers » déterminent la valeur d'une personne, et non plus son attitude, sa chaleur ou ses paroles. La société devient plus froide, plus distante, et la cordialité semble s'estomper.

Doch es gibt Orte, die dieser Entwicklung trotzen. Orte, an denen gesprochen, gelacht und gelebt wird – echte Begegnung statt digitaler Distanz. Einer dieser Orte sind unsere Anlässe der Sektionen. Hier wird nicht nur kommuniziert – hier wird wirklich kommuniziert: persönlich, direkt, respektvoll und mit Herz. Es gelten klare Regeln, gewachsene Hierarchien und gemeinsame Werte, die Halt geben in einer zunehmend orientierungslosen Welt. Es geht einfach darum, den Ort der Begegnung zu fördern. Tatsächlich ist das Handyverbot beim Stamm, dieses kleine Element, das vor dreissig Jahren noch unbedeutend war, vielleicht zu unserer Stärke geworden.

Unser Stamm ist ein Ort der gelebten Vielfalt und des echten Austauschs – sprachlich, denn hier begegnen sich Menschen in allen Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und sogar Rätoromanisch. Und generationenübergreifend, denn bei uns kommen Jung und Alt zusammen, teilen Erfahrungen, geben Wissen weiter und wachsen gemeinsam. In dieser lebendigen Gemeinschaft entsteht ein Miteinander, das verbindet – über Sprach- und Altersgrenzen hinweg.

Was unsere Verbindung besonders macht, ist die Tiefe der Beziehungen, die hier entstehen. Freundschaften fürs Leben, ein Netzwerk, das trägt – beruflich, politisch und persönlich. Wir fördern nicht nur den Dialog, sondern auch die Persönlichkeitsbildung, das Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit, sich in einer komplexen Gesellschaft zu behaupten.

Der Schweizerische Studentenverein ist kein gewöhnlicher Verein – er ist ein Lebensbund. Ein Ort, an dem Werte gelebt werden, die in der heutigen Zeit kostbarer denn je sind.

Unser Stamm ist mehr als ein Treffpunkt. Er ist eine Schule fürs Leben – ein Ort, an dem gesellschaftliches Miteinander, echte Freundschaft und verantwortungsvolles Handeln gelebt und gelernt werden. Hier übt man sich im Zuhören, im Argumentieren, im Respekt – Fähigkeiten, die nicht nur im persönlichen Umfeld, sondern auch in der öffentlichen Verantwortung, etwa in der Politik, von zentraler Bedeutung sind.

Der Schweizerische Studentenverein bietet ein geschütztes Umfeld, in dem man sich ausprobieren darf. Fehler sind hier keine Makel, sondern Lernmomente – sie werden verziehen, reflektiert und führen nicht zu Stigmatisierung, sondern zu persönlichem Wachstum. Man lernt, sich sprachlich sicher auszudrücken – in Diskussionen, in Reden, in verschiedenen Landessprachen – und entwickelt dabei ganz nebenbei Führungskompetenzen, die weit über das studentische Leben hinausreichen.

Ce qui rend notre association particulière, c'est la profondeur des relations qui s'y nouent. Des amitiés pour la vie, un réseau qui soutient – sur le plan professionnel, politique et personnel. Nous encourageons non seulement le dialogue, mais aussi le développement de la personnalité, le sens des responsabilités et la capacité à s'affirmer dans une société complexe.

L'Association suisse des étudiants n'est pas une association ordinaire, c'est une alliance pour la vie. Un lieu où l'on vit des valeurs qui sont plus précieuses que jamais à l'heure actuelle.

In dieser Gemeinschaft wird nicht bewertet, sondern begleitet. Sie bietet Orientierung, Halt und Inspiration – und bereitet ihre Mitglieder auf die Herausforderungen des Lebens vor. Wer hier Verantwortung übernimmt, ist bereit, sie auch ausserhalb des Stamms zu tragen.

Deshalb heissen wir euch heute, liebe Kandidatinnen und Kandidaten, herzlich willkommen. Ihr tretet nicht nur einem Verein bei – ihr tretet einem Lebensbund bei. Einem Bund, der euch begleitet, stärkt und prägt. Wir freuen uns, euch kennenzulernen, mit euch zu diskutieren, zu feiern – und gemeinsam die Werte zu leben, die unsere Gesellschaft wärmer machen.

Chers Candidats, nous vous souhaitons aujourd'hui la bienvenue. Vous n'adhérez pas seulement à une association, vous adhérez à une alliance pour la vie. Une alliance qui vous accompagne, vous renforce et vous façonne. Nous sommes heureux de faire votre connaissance, de discuter avec vous, de faire la fête avec vous et de vivre ensemble les valeurs qui rendent notre société plus chaleureuse.

Vivat, crescat, floreat!

Diese Rede hielt die Zentralpräsidentin Marina Glaninger v/o Ambivalla im Rahmen der Kandidatenaufnahme am GV-Samstag, 23. August 2025, auf dem Dorfplatz Sarnen.

 

Fotos im Slider oben: Andreas Waser v/o Loop.

Vom 22. bis 24. August 2025 fand das Zentralfest des Schweizerischen Studentenvereins zum achten Mal in Sarnen statt. (Foto: Andreas Waser v/o Loop)

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