Titelbild zum Artikel Die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit als vordringliches Ziel

Wie für jedes Land stellt sich für die Schweiz die Frage, wie sie sich in der neuen unsicheren Welt positioniert. (Bild: VBS/DDPS; André Scheidegger)

18.05.2025

Die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit als vordringliches Ziel

Die sicherheitspolitische Lage ­erinnert an die Zeit vor 1991, als die Welt, vereinfacht dargestellt, in zwei Lager ­gespalten war: ein freiheitliches, demokratisches, den Rechtsstaat achtendes Lager und ein autokratisches, das sich auf ­Gewaltherrschaft stützte. Wie geht die Schweiz damit um?

Text: Bernhard Altermatt v/o Nemesis

 

Wir kennen noch die Weltkarten aus dem Geschichtsunterricht. Thema: Kalter Krieg. Die Welt ist in zwei Blöcke geteilt, einer rot, einer blau. Blau repräsentierte den Westblock: demokratische Staaten, die sich auf Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats, der Gewaltenteilung, Menschenrechte und Freiheit stützten. Rot die kollektivistischen, autoritären Staaten des Ostblocks. Heute tritt erneut ein Ost-West-Gegensatz zutage: China, Russland, Nordkorea und Iran bilden im Osten einen autoritären Multi-Cluster und destabilisieren die Länder in ihrem geografischen und kulturellen Umfeld. Dort operieren weitere Regionalmächte, von denen nicht immer klar ist, wie sie sich dauerhaft positionieren und wohin sie streben. Mit Blick aus Europa rücken insbesondere die Türkei und Indien in den Fokus, aber die Liste umfasst weltweit Staaten wie Brasilien, Indonesien oder Südafrika.

Europa bildet im Westen Eurasiens einen freiheitlichen Brückenkopf, der bisweilen als umzingelte Insel der Demokratie, des Wohlstands und des Rechts erscheint. Ungeachtet aller inneren und äusseren Herausforderungen sowie der Kritik im Innern und von aussen, versuchen jedes Jahr hunderttausende Menschen nach Europa einzuwandern. Der Kontinent ist einer der stärksten globalen Anziehungspunkte für Flüchtende, Vertriebene und Migranten; ein sicherer Hafen in einer von Kriegen, Konflikten und Krisen geprägten Welt.

Bis vor Kurzem galten die USA (und mit ihnen Kanada sowie mit einigen Ausnahmen Mittel- und Südamerika) als Teil des «westlichen» Lagers der Freiheit und Demokratie. Wohl wird Nordamerika auch weiterhin zu diesem Lager gehören. Aber die bedingungslose, mit geteilten Werten und gemeinsamen Interessen begründete Bündnistreue der USA gegenüber Europa schwächt sich ab. Dies zwingt Europa, viel stärker als bisher, Verantwortung zu übernehmen für seine eigene Sicherheit sowie für diejenige seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

In einer ebenso ungemütlichen Lage befindet sich Afrika, das zwischen diesen Blöcken liegt und seit zwei, drei Jahrzehnten erneut in den Fokus post- und neokolonialer Einflussnahme geraten ist. In diesem neuen «Contest for Africa» tut sich insbesondere China hervor, aber auch Russland und andere Regionalmächte drängen auf den Kontinent. Parallel dazu wurden die ehemaligen europäischen Kolonialmächte im Gleichschritt mit den USA massiv zurückgedrängt oder haben sich zurückgezogen.

Zum grossflächigen Üben des Kampfs im überbauten Gebiet unter realistischen Bedingungen fehlen der Schweizer Armee die Infrastrukturen. (Bild: VBS/DDPS; Alex Kühni)

Neue Ungemütlichkeit in der Geopolitik

Wie für jedes Land stellt sich für die Schweiz die Frage, wie sie sich in der neuen unsicheren Welt positioniert. Sie kann entscheiden, gleichsam neutral abseitszustehen und dabei Machtmissbrauch und Gewaltherrschaft faktisch zu stützen, oder sie kann ihre handfesten Interessen und ihre ideellen Werte solidarisch im Verbund mit Partnerländern verteidigen. Zwischen diesen zwei Haltungen gibt es selbstredend unzählige Nuancen. 

Bei der Beantwortung dieser fundamentalen Fragestellungen sind an vorderster Stelle die hoheitlichen Aufgaben des Staats in den Blick zu nehmen, die nicht an Private delegiert und übertragen werden können. Dazu gehören die Gewährleistung der äusseren und der inneren Sicherheit, die Justiz, die Diplomatie und die Währungspolitik. An zweiter Stelle treten die weiteren, materiellen und nicht-materiellen Interessen des Landes ins Blickfeld: die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Belange.

Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die Gewährleistung der äusseren Sicherheit als wichtigste Hoheitsaufgabe des Staats. Er knüpft an ein Referat von Brigadier Serge Pignat an, Kommandant der Mechanisierten Brigade 1, der am 29. März 2025 als Gastreferent an der 3. Armeekneipe des Schweizerischen Studentenvereins in Freiburg sprach. Ausgehend von einer breiten Tour d’horizon über die geopolitische Situation, beleuchtete er den Zustand und die Zukunft der Schweizer Armee im Allgemeinen sowie der Bodentruppen im Speziellen, indem er immer wieder auf zentrale Problemstellungen zurückkam.

Wie kann die Schweiz die Sicherheit ihrer Grenzen, ihres Territoriums, ihrer Infrastrukturen und ihrer Bevölkerung gewährleisten? Ist sie fähig, sich gegen konventionelle Bedrohungen zu verteidigen und hybride Angriffe (Cyberattacken, Sabotage und Spionage) abzuwehren? Wie steht sie zum US-amerikanischen Disengagement von Europas Sicherheit und zu den europäischen Bemühungen, die kontinentale Verteidigung eigenständig zu stärken? Inwiefern kann die Schweiz ihre Verteidigung allein und durch Kooperation garantieren? Welche Prioritäten müssen gesetzt und welche Investitionen getätigt werden?

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Exkurs
Zum Handlungsspielraum der Schweiz in den internationalen Beziehungen
In: stratos, Militärwissenschaftliche Zeitschrift der Schweizer Armee, Nr. 2/2024, S. 57–66.
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Aussenpolitik ist Innenpolitik

Die Beantwortung dieser Fragen hängt von der inneren Willensbildung und von äusseren Faktoren ab. Es geht einerseits darum, was die Schweiz und ihre Bevölkerung wollen. Andererseits ist massgebend, welche Erwartungen von aussen an die Schweiz ­herangetragen werden. Wer die Aussen- und Sicherheitspolitik einigermassen realistisch beurteilt, kommt zum Schluss, dass von der Schweiz künftig Leistungen gefordert sein werden, die weit über die bisherige «Kohäsions-Milliarde» zugunsten strukturschwacher EU-Mitgliedstaaten hinausgehen.

Der sich schon länger ankündigende, progressive Rückzug der USA und die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer Übernahme von Verantwortung durch Europa wird dazu führen, dass unserem Land zusätzliche Solidaritätsleistungen abverlangt werden. Mit anderen Worten: Die EU wird die Schweiz in naher Zukunft freundlich, aber bestimmt um «Sicherheits-Milliarden» bitten als Gegenleistung für Marktzugang, Kooperation und Integration, Teilnahme am und Zugehörigkeit zum europäischen Freiheitsraum. 

Um die sicherheitspolitischen Herausforderungen im Kontext der internationalen Beziehungen zu meistern, benötigt die Schweiz politische Führungsstärke, konsequente Interessenabwägung, Herstellung von Klarheit und eindeutige Kommunikation über ideelle Werte und handfeste Interessen. Das macht eine intensive Diskussion notwendig – insbesondere auch darüber, wie die Neutralität der Schweiz in diesem Kontext anwendbar ist. Der Schweizerische Studentenverein leistet mit seinen Gesprächsforen und Denkgefässen einen Beitrag an diese vordringlichen Debatten.

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Exkurs
Die wachsenden Mühen der Schweiz mit der Neutralitätspolitik
In: stratos, Militärwissenschaftliche Zeitschrift der Schweizer Armee, stratos digital #44, März 2023, 5 S.
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Dreistufige Bedrohungslage

Der Anlass in Freiburg führte den rund 60 anwesenden Mitgliedern und Gästen die enormen Herausforderungen vor Augen, die durch die rasche Verschlechterung der internationalen Sicherheitslage in den letzten Jahren entstanden sind. Des Weiteren bot er die Gelegenheit, von einem hohen Offizier der Schweizer Armee zu hören, welche Grundvoraussetzungen und Bedürfnisse für eine effektive Landesverteidigung zu erfüllen sind. Dazu wies Brigadier Pignat auf die drei Bedrohungsstufen hin, für welche die Schweiz ihre Verteidigungsfähigkeit gewährleisten muss.

Die erste und grösste Bedrohung sind hybride Angriffe: Cyberkriegsführung und Cyberkriminalität, Informationskrieg, Spionage und Sabotage. Als reiches und international vernetztes Land, befindet sich die Schweiz längst im Fadenkreuz feindlicher Mächte und böswilliger Akteure. Die meisten derartigen Angriffe können hinsichtlich ihrer Herkunft zugeordnet werden, befinden sich aber (gemäss geltenden Normen des internationalen Rechts) unterhalb der Schwelle zum Krieg. Daraus folgt, dass erstens der globale Rechtsrahmen ganz offensichtlich nicht mehr genügt, um solche Angriffe zu bekämpfen, und dass die Schweiz zweitens ihre Verteidigungskapazitäten in diesem Bereich laufend verbessern muss.

Während verdeckte und offene Cyberangriffe bereits heute an der Tagesordnung sind, ist das Eintreten der zweitgrössten Bedrohung weniger wahrscheinlich, aber nichtsdestotrotz möglich: Angriffe mit ballistischen Flugkörpern, konventionell oder nicht, sowie Einsatz von Drohnen und anderen Mitteln der Fernkriegsführung. Die Verteidigung gegen solche Angriffe ist beim aktuellen Stand nicht gewährleistet. Der Handlungsbedarf ist jedoch erkannt und es sind Bestrebungen im Gang, dies so schnell wie möglich zu ändern.

Die dritte Bedrohung ist ein konventioneller bewaffneter Konflikt, ein terrestrischer Angriff auf die Schweiz. Gerade weil dieser Fall als wenig wahrscheinlich erscheint, sei umso deutlicher auf andere europäische Regionen hingewiesen, die sich diesbezüglich weniger glücklich schätzen können. Man denke an die Ukraine, aber auch an die baltischen Länder, an Georgien, an die Anrainerstaaten des Schwarzen Meers, an den Kaukasus und Zentralasien, die alle an den Grenzen Europas liegen. In sämtlichen erwähnten Gebieten verfügt Russland über Militärstützpunkte oder Streitkräfte, hat militärisch interveniert, Gebiete besetzt, separatistische Bewegungen unterstützt, Marionettenregime installiert oder seine Stärke benutzt, um zu drohen, zu nötigen oder zu attackieren.

Russische Operationen in Transnistrien (Moldau), Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Tadschikistan, Dagestan und Kasachstan haben den zwischenstaatlichen, konventionellen Krieg bereits lange vor der Annexion der Krim und der Invasion der Ukraine in unsere Nachbarschaft zurückgebracht. Wie Europa, hat es die Schweiz lange versäumt, aus diesen Interventionen die richtigen Schlüsse bezüglich Sicherheitspolitik, Rüstung und Verteidigung zu ziehen. Auch wenn die Bedrohung durch die verschiedenen Konfliktszenarien ungleich gross und nicht gleich wahrscheinlich ist, muss die Schweizer Armee darauf vorbereitet sein, sie allesamt abzuwehren: Hybrid-, Luft- und Bodenangriffe.

(Foto: VBS/DDPS)

Herausforderungen für die Bodentruppen

Um die drei in der Verfassung festgeschriebenen Aufgaben der Armee zu erfüllen – Landesverteidigung, Unterstützung der zivilen Behörden, Beiträge zur internationalen Friedenssicherung – stehen der Schweizer Armee heute etwas mehr als 100 000 Mann zur Verfügung. Diese Zahl wurde in mehreren «Entwicklungsschritten» seit der Armee 61 (via Armee 95 und Armee XXI) von damals 800 000 massiv reduziert. Die Schweiz sparte und gönnte sich – wie der Rest Europas – eine Friedensdividende auf Kosten der militärischen Verteidigungsfähigkeit.Am Beispiel der Bodentruppen erläuterte Brigadier Serge Pignat  bestehende Mängel und Schwächen. Die Schweizer Armee verfügt (gemäss aktueller Einsatzdoktrin, Bestand, Ausbildungsstand und Ausrüstung) über eine terrestrische Stosskraft von 23 000 Mann an schweren Kräften auf der ersten von insgesamt sechs Stufen. Dazu kommen auf der zweiten Ebene Kampfunterstützungsverbände aus Artillerie und Genie. Die mittleren und leichten Kräfte erfüllen gemeinsam mit den Eingreifkräften Aufgaben im Rückwärtigen und werden ihrerseits von territorialen Kräften unterstützt.

Zusammen mit den Br 4 und 11 bildet die von Serge Pignat kommandierte Mech Br 1 heute die Speerspitze für den Landkampf der Schweizer Armee. Zu Ausbildungszwecken sind ihre Kampfkräfte in drei mechanisierte Bataillone und ein Infanteriebataillon sowie ein Panzersappeurbataillon geteilt, die im Ernstfall gemischt werden. Obwohl ein Eintreten dieses Falles unwahrscheinlich ist, verstärkte der Angriff Russlands auf die Ukraine mit Blick auf die schweren Bodentruppen auch hierzulande das Bewusstsein für bestehende Lücken. Die Schweiz wäre momentan nicht in der Lage, sich gegen einen Angriff zu verteidigen, der auf dem Landweg, in der Tiefe des Raums, mit klassischen Mitteln, aber auch mit neuartigen Waffen (z. B. Drohnen) geführt würde.

Alle Analysen und Übungen bestätigen bekannte Insuffizienzen, beispielsweise im Bereich Kommunikation und Information beziehungsweise «Command & Control». So sind die heute eingesetzten Systeme rund 25 Jahre alt und müssen ersetzt werden. Ziel ist die Schaffung von integrierten und verbundenen Zielsensoren, Führungs- und Wirkmitteln, die über die ganze Handlungskette im sogenannten Sensor-Führung-­Wirkungsverbund eingesetzt werden: von der Akquisition und Transmission von Informationen, über deren Verarbeitung zur Lagebeurteilung, zur Führung auf allen Stufen und in allen Bereichen, bis in die Gewährleistung einer maximalen Wirkungskraft der eingesetzten Mittel.

Die Truppenübung TRIAS 25 als Beispiel für die unumgängliche Ausbildungskooperation. (Bild: VBS/DDPS; Etienne Alder)

Drei Lehren aus der Ausbildung

Als Reaktion auf die konstatierten Herausforderungen hat das Heer zwei Kompetenz­zentren geschaffen in Führungs- und Fachsystemen (FFS) sowie in Dynamischer Raumverteidigung (DRV). Da die Schweizer Armee keine Einsatzerfahrung im Konfliktfall nutzen kann, haben die permanenten Anstrengungen in der Aus- und Weiterbildung einen besonders hohen Stellenwert. So führte die Teilnahme der Mech Br 1 an grossen Übungen beispielsweise auch Unbestimmtheiten hinsichtlich der Befehlskette zutage: Wer hat während Einsätzen im Verbund die oberste Befehlsgewalt, das Heer oder die Territorialdivision? Was früher unter dem Begriff «Manöverkritik» lief, das heisst die laufende Auswertung der Ergebnisse, gibt wichtige Impulse zu Anpassungen und Reformen – einschliesslich hinsichtlich erhöhter Klarheit bei den operativen Prozessen, Strukturen und Weisungen.

Eine zweite Problematik ist die immer wieder beklagte, mangelnde räumliche Tiefe bei Einsätzen an den Landesgrenzen. Gemäss geltendem rechtlichem Rahmen und aktueller Doktrin kann die grenzüberschreitende Verteidigung nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Bundesrats erfolgen. Somit ist die Armee nicht in der Lage, einen Gegner autonom im vorgelagerten Raum zu stoppen, einen möglichen Angriff zu verzögern, um Zeit für den Aufbau eines effektiven Verteidigungsdispositivs zu gewinnen. 

Obwohl zu erwarten ist, dass diese restriktiven Grundsätze bei Bedarf rasch angepasst werden, besagen sie faktisch, dass der Verteidigungskampf erst dann greift, wenn ein möglicher Angreifer die territoriale Integrität des Landes bereits verletzt hat. Dies ruft nach einer partiellen Revision der Einsatzdoktrin, da ansonsten der Schutz der Schweizer Grenzen an Nachbarn und Verbündete ausgelagert werden muss.

Ein dritter Mangel betrifft die Einsatzfähigkeit in dicht besiedelten Gebieten. Die territoriale Struktur des Landes führt dazu, dass die Armee im Fall einer Bedrohung oder eines Angriffs in erster Linie urbanisierte Regionen verteidigen muss. Nun erlauben es aber unsere Infrastrukturen nicht, diesen Abwehrkampf unter realistischen Bedingungen zu üben. Um mit den Worten von Brigadier Pignat zu sprechen: Die Schweizer Armee trainiert den Häuserkampf in Kulissen, die einem Waadtländer Strassendorf gleichen, mit zahlreichen Freiräumen und breiten Strassen ohne Hindernisse, wohingegen die Truppen in Wirklichkeit in Basel, Genf, Lugano und Schaffhausen kämpfen müssten.

Eine vierte, an der Veranstaltung hervorgehobene Problematik ist die Gewährleistung der Lufthoheit als Conditio sine qua non für den Einsatz von Bodentruppen. Ohne die Herrschaft über den Luftraum sind Aktionsradius und Einsatzmöglichkeiten massiv eingeschränkt. In diesem Bereich sind zwingende Investitionen notwendig, die bereits angelaufen sind, aber anhaltende Anstrengungen erfordern.

 

Berichte empfehlen Ausbildungskooperation

Diese und weitere Erkenntnisse sind enthalten in drei Grundlagenberichten, die der Bundesrat 2016 im Anschluss an die Annexion der Krim durch Russland in Auftrag gegeben hat: «Luftverteidigung der Zukunft» (2017), «Zukunft der Bodentruppen» (2019) und «Gesamtkonzeption ­Cyber» (2022). Alle drei wurden nach der russischen Invasion der Ukraine ab Frühling 2022 angepasst und ergänzt. Als konkrete Folge für die Bodentruppen ist der Auftrag des Chefs Kommando Operationen an das Kommando Heer vom 22. August 2022 zu erwähnen, den Häuserkampf verstärkt zu studieren und die notwendigen Anpassungen zu evaluieren (Studie «Military Operations in Urban Areas MOUT»).

Bei der Umsetzung der Massnahmen spielt die Ausbildungskooperation mit befreundeten Staaten eine heraus­ragende Rolle. Wie fast alle Länder, verfügt die Schweiz allein nicht über genügende Infrastrukturen, um beispielsweise den Kampf im Gelände oder im urbanen Umfeld richtig zu trainieren. Es sind darum Übungen vorgesehen in (und mit) Österreich und Frankreich, künftig wohl auch mit Italien und mit Deutschland, das hinsichtlich der militärischen Verteidigungsfähigkeit durch das US-amerikanische Disengagement besonders stark in die Verantwortung gezogen wird.

Bei der Ausbildungskooperation arbeitet die Schweiz selbstredend mit ihren Nachbarn zusammen, mit denen sie nicht nur die Sprachen und streckenweise die Kulturen, sondern auch politische und sicherheitspolitische Grundhaltungen teilt. Man denke an die Neutralität, die weder Österreich noch die Schweiz daran hindert, mit ihren Partnern zu kooperieren. Unser östliches Nachbarland ist, neben Irland, einer der zwei neutralen Mitgliedsstaaten der EU, nachdem Schweden und Finnland angesichts der Bedrohung der Grenzen im Osten Europas durch Russland jüngst der NATO beigetreten sind. Auch im Bereich Ausbildungszusammenarbeit braucht es Reformen, damit die Schweizer Armee das angestrebte Niveau von Bereitschaft und Verteidigungsfähigkeit erreicht. Beispielsweise können Armeeangehörige momentan nur freiwillig an Truppenübungen im Ausland teilnehmen.

(Foto: VBS/DDPS; Philipp Schmidli).

Verteidigung als neue politische Priorität

Die Ausführungen von Brigadier Pignat liessen die zwischenzeitliche Schlussfolgerung zu, dass die Schweiz im Grossen und Ganzen die Zeichen der Zeit erkannt hat. Das Bewusstsein für eine Stärkung der Mittel, die der Verteidigung und der ­Sicherheitspolitik zur Verfügung stehen, ist in den letzten Jahren eindeutig gewachsen. Ebenso hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass grosse Investitionen in die Armee getätigt und dass die seit dem Ende des Kalten Kriegs aufgelaufenen Rückstände behoben werden müssen – sei dies bei der militärischen Planung und Bewaffnung, aber auch bei den personellen Ressourcen und bei der Zusammenarbeit. 

Ein Indikator der wiedererlangten Wichtigkeit der Sicherheitspolitik ist der scheinbar nebensächliche, aber nicht zu unterschätzende Umstand, dass die jüngst abgetretene Verteidigungsministerin Viola Amherd die erste Bundesrätin seit Langem war, die das Departement nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gewechselt hat. Die 2024 erfolgte Schaffung des Staatssekretariats für Sicherheitspolitik SEPOS und des Bundesamts für Cybersicherheit BACS (Nationales Zentrum für Cybersicherheit seit 2020) ist ebenfalls ein Zeichen, dass die Schweiz in einer Zeit der rasant zunehmenden Unsicherheit und Instabilität die notwendigen Schritte eingeleitet hat.

In Deutschland – um nur ein Land zu nennen – und im Rest Europas brauchte es die harte Aburteilung durch die neue US-amerikanische Regierung und deren sich abzeichnendes Disengagement von der europäischen Sicherheit, um die politischen Führungsschichten aufzurütteln. In der Schweiz, die ganz unmittelbar vom militärischen Schutzschild des Westens profitiert, geniesst die Notwendigkeit einer starken Landesverteidigung einen vergleichsweise hohen Rückhalt in Öffentlichkeit und Politik. Im Jahr 2020 stimmten die Bürgerinnen und Bürger dem Kauf neuer Kampfflugzeuge zu, nachdem dieser vorher mehrfach gescheitert war und verzögert wurde; das Parlament gewährte dem Militär ab 2023 erhebliche Budgeterhöhungen; und während der Corona-Krise wurde die Armee erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs mobilisiert zur Unterstützung der zivilen Behörden.

In der Führung und der Einsatzdoktrin ist ein namhafter Kulturwandel im Gang, der auf grösserer Agilität und verstärkter Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Akteuren basiert. Wie Brigadier Pignat hervorhob, braucht sich die Schweizer Milizarmee bezüglich der Qualität ihrer Leistungen nicht zu verstecken. Obwohl sie aus quantitativer Perspektive unbedeutend erscheint, bildet auch die konsequente Öffnung für Frauen, die Militärdienst leisten wollen, ein wichtiges Element bei den Anstrengungen für eine kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung der Armee.

Trotz dieser positiven Tendenzen erhält der neue Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, Bundesrat Martin Pfister, keine Schonfrist. Bei den Armee- und Departementsfinanzen, im Projektmanagement, in der Überwachung und Qualitätskontrolle erben die aufeinanderfolgenden VBS-Vorsteher grosse Probleme, die nachhaltige Lösungen erfordern. Noch ist das Steuer nicht komplett herum­gerissen, aber die letzten Jahre haben es – bisweilen schonungslos – erlaubt, Licht auf bestehende Mängel zu werfen und die notwendige Transparenz herzustellen. Auf Vorschlag des Departementsvorstehers wird der Bundesrat zudem rasch wichtige Ernennungen an der Spitze von Armee und Geheimdienst sowie im Rüstungsbereich vornehmen müssen.

Die Aufklärung, Übermittlung, Verarbeitung, Analyse und Nutzbarmachung von Information im High Tech-Raum benötigen zwingend Modernisierung. (Bild: VBS/DDPS; Clemens Laub)

Rüstungsindustrie in der Existenz bedroht?

Im Rüstungssektor steht die Schweiz vor grossen, hausgemachten Herausforderungen aufgrund politischer Blockaden, die mit der fehlenden Klärung im Bereich Neutralitätspolitik zusammenhängen. Private, aber auch staatliche und autonome, öffentlich-rechtliche Rüstungsbetriebe oder solche, die in und mit der Schweiz in privaten und Private-Public-Partnerschaften operieren, stehen seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der zaudernden Haltung der schweizerischen Politik massiv unter Druck.Nicht nur hat sich die Schweiz innenpolitisch strikte Massnahmen zur Export­kontrolle von Kriegsmaterial auferlegt, sondern sie stellt ihre Rüstungsindustrie auch mit einer engen Auslegung des Neutralitätsrechts aussenpolitisch ins Abseits. Dies birgt drei existenzielle Bedrohungen: 

Erstens können Schweizer Betriebe kein Kriegsmaterial und auch keine Güter mit potentieller militärischer Verwendung (sog. Dual-Use-Güter), ja nicht einmal Verteidigungswaffen wie Luftabwehrsysteme, an kriegführende Länder liefern. Dies gilt beispielsweise für die Ukraine, die sich kriegs- und völkerrechtskonform gegen einen Angriff wehrt, der von der Schweiz zudem als illegitim und illegal verurteilt worden ist.

Zweitens kann die Schweiz und können Schweizer Betriebe keine Rüstungsgüter an Befreundete, Verbündete, Partner und weitere staatliche oder private Kunden liefern, die von den betreffenden Akteuren ihrerseits an kriegführende Länder weitergegeben oder weiterverkauft werden. Man erinnere sich an die unmögliche Lieferung von alten Gefechtsfahrzeugen der Schweizer Armee; an den blockierten Rückkauf von Panzern des Typs Leopard 2 durch Deutschland, das seine eigenen Bestände an die Ukraine weitergegeben hatte; an die verbotene Wiederausfuhr von Munition aus schweizerischer Produktion für ­Gepard-Flugabwehrpanzer an die Ukraine.

Man braucht keine übertrieben merkantilistische und zynische Haltung einzunehmen, um zu verstehen, dass die von der Schweiz autonom angewandte, strikte Interpretation der export- und neutralitätsrechtlichen Vorgaben für die nationale Rüstungsindustrie ein gravierendes Problem darstellt. Natürlich kann dies unser Land in Kauf nehmen oder sogar anstreben, etwa aus rechtlichen, ethischen oder moralischen Überzeugungen. Man kann Pazifismus und Gewaltverzicht schwerer gewichten als wirtschaftlichen Erfolg und Prosperität. Der Fall der Ukraine zeigt jedoch deutlich, dass der Verzicht auf Kriegsmaterialexport bisweilen nicht mit Recht, Moral und Ethik begründet werden kann. 

Drittens ist die prekäre Stellung der Schweiz als Kundin auf dem internationalen Rüstungsgütermarkt anzuführen. Kriege, wie diejenigen in der Ukraine und in Gaza, verschlingen Unmengen an ­Munition und Material, die die vorhandenen Reserven ausschöpfen und die bestehenden Produktionskapazitäten sprengen. Diese Engpässe bei Herstellung und Lieferketten werden angesichts der weltweiten Aufrüstung zusätzlich verstärkt. Produzierende Länder verkaufen ihre Rüstungsgüter prioritär an Partner, die im Konfliktfall auf ihrer Seite stehen oder zumindest Rückkäufe, Weitergabe und Reexport von Kriegsmaterial ermöglichen.

 

Die Schweiz neutralisiert sich selbst

Bisher gewichtet der Bundesrat die Einhaltung der neutralitätsrechtlichen Pflichten (gemäss Haager Abkommen von 1907) höher als die Rechte und Pflichten, die sich aus der UNO-Charta ergeben. In Kombination mit den autonom beschlossenen Ausfuhrbeschränkungen von Kriegsmaterial steht die schweizerische Rüstungsindustrie damit in allen drei oben erwähnten Zusammenhängen auf der Verliererseite. Ein von der scheidenden Verteidigungsministerin in Auftrag gegebener Bericht zur Neutralität führte vorerst zu keiner Klärung.

Die aussen- und sicherheitspolitischen Leitplanken und Grenzen, die sich die Schweiz in den internationalen Beziehungen auferlegt, haben auch Rückwirkungen auf die militärische Doktrin, die sich an bestimmten formulierten – oder eben nicht formulierten – Zielen orientiert. Um es mit Begriffen aus der militärischen Führung auszudrücken: Die schweizerische Sicherheits- und Verteidigungspolitik krankt an einer von der politischen Verantwortungsstufe herrührenden unvollständigen Problemerfassung, die ihrerseits die objektive Lagebeurteilung, die konsequente Auftragsanalyse und die zielgerichtete Entschlussfassung hemmt.

Angesichts der harzig angelaufenen politischen Debatten und anstehender Volksabstimmungen über Grundfragen der Neutralität und der Aussenpolitik, ist es vordringlich, die zwei fundamentalen Pfeiler internationaler Beziehungen in Erinnerung zu rufen, an denen sich jede Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik orientiert: einerseits die Verteidigung von praktischen, realpolitischen Interessen, zu denen etwa Sicherheit, Stabilität und Wohlfahrt gehören; andererseits die Vertretung von ideellen Werten, wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Beide Vektoren der klassisch interpretierten internationalen Beziehungen schliessen sich nicht aus, sondern überlagern sich dynamisch. Im Idealfall decken sich ideelle Werte mit handfesten Interessen, sodass deren Verteidigung keine politischen Dilemmata auslöst. Ob die in Lugano 2022 und auf dem Bürgenstock 2024 durchgeführten Konferenzen zur Unterstützung der Ukraine ein implizites Bekenntnis zu einer klarer ausgerichteten Aussen- und ­Sicherheitspolitik der Schweiz waren, bleibt dahingestellt.

«Schwarzbuch» mit drei strategischen Leitlinien

Im August 2023 stellte der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, ein «Schwarzbuch» mit Grundlagen und Leitlinien für die künftige Entwicklung der Armee bis 2030 und darüber hinaus vor. Die Armeekneipe in Freiburg bot Brigadier Pignat die Gelegenheit, die drei unter dem Titel «Die Verteidigungsfähigkeit stärken» zusammengefassten strategischen Stossrichtungen in Erinnerung zu rufen:

  1. die adaptive Weiterentwicklung der militärischen Fähigkeiten (mittels der Fortführung und Ausweitung laufender Investitionen)
  2. die Nutzung des technischen Fortschritts (indem neue Lösungen schneller als anderswo übernommen sowie die Prozesse und der Ressourcenverbrauch optimiert werden)
  3. die intensivierte internationale Kooperation (um die Erfahrungen anderer Streitkräfte besser zu nutzen sowie Trainings- und Beschaffungsmöglichkeiten auszuweiten)

Die persönliche Analyse des Kommandanten der Mech Br 1 weist ausserdem darauf hin, dass die Schweizer Armee wohl nicht umhinkommt, mittelfristig auch ihr Ausbildungskonzept von Grund auf zu reformieren. Gemäss Brigadier Pignat ist insbesondere eine engere Staffelung der Ausbildungsperioden notwendig, um die Effektivität und Wirkung des Gelernten und Geübten dauerhaft zu gewährleisten.

In diesem Kontext findet im Mai 2025 in der Region der Waffenplätze Wichlen und Hinterrhein eine binationale Truppenübung statt. Oberstleutnant Maxime Morard wird dort das Panzersappeurbataillon 1 der Brigade und zwei Einheiten der französischen Streitkräfte, insgesamt 1000 Mann, befehligen. Das Heer, die Mech Br 1, die mobilisierten Bataillone und ihre Kameraden der zwei anderen mechanisierten Brigaden, der Territorialdivisionen, der Luftwaffe und der Spezialkräfte leisten damit ihren Beitrag an den Erhalt und die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee. 

Fotos und ein Rückblick auf die 3. Armeekneipe des Schweizerischen Studentenvereins vom 29. März 2025 finden Sie hier.

Bernhard Altermatt v/o Nemesis (GV Zähringia, AV Berchtoldia, SA Sarinia) ist Historiker und Politologe. Er ist als Fachoffizier bei der Militärakademie eingeteilt und wurde per 2024 vom Bundesrat in die Eidg. Kommission für Jugend- und Rekrutenbefragungen (ch-x) gewählt. Im Grossen Rat des Kantons Freiburg amtiert er seit Jahresbeginn als 2. Vizepräsident für Die Mitte. Er ist Vizepräsident der kantonalen Kommission für auswärtige Angelegenheiten sowie der Kommission des Museums für Kunst und Geschichte Freiburg.

 

Fotos: VBS/DDPS.

Vom 22. bis 24. August 2025 fand das Zentralfest des Schweizerischen Studentenvereins zum achten Mal in Sarnen statt. (Foto: Andreas Waser v/o Loop)

Feiern in Freiheit und Mitbestimmung

Rückblick auf das Zentralfest in Sarnen, 22. bis 24. August 2025.

04.09.2025

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