Titelbild zum Artikel Papst Franziskus – Trost und Misstrost über ein Pontifikat

Papst Franziskus feierte mit den Gläubigen im Jahr 2019 das 175. Jubiläum des Gebetsapostolats. (Foto: Societas Jesu SJ)

05.05.2025

Papst Franziskus – Trost und Misstrost über ein Pontifikat

P. Pascal Meyer SJ v/o Gschütz fragt sich: Wie ging es mir mit diesem Pontifikat? Was hinterlässt bei mir Unruhe, Anspannung, Unfrieden?

Text: P. Pascal Meyer SJ v/o Gschütz
Fotos: Societas Jesu SJ

 

In der Woche nach Ostern waren die Zeitungen voll von Nachrufen auf Papst Franziskus, der am Ostermontag mit 88 Jahren verstorben war. In einigen bemühten sich die Autoren um eine ausgewogene Berichterstattung und angemessene Würdigung des ersten lateinamerikanischen Pontifex Maximus. Andere wiederum kippten entweder in eine Vorstufe zur Heiligsprechung oder sie rechneten eiskalt mit dem ersten Jesuiten auf dem Thron Petri ab, als ob es sich um die schlimmsten Jahre der Kirchengeschichte gehandelt hätte. Ich möchte mich in diesem kurzen Nachruf auf Papst Franziskus bemühen, weder in positive noch negative Überschätzungen zu rutschen. Hingegen möchte ich – in klassisch jesuitischer Weise – eine Unterscheidung der Geister vornehmen im Gedanken an den Verstorbenen. Wo verspüre ich Trost, wenn ich an Franziskus zurückdenke? Was hinterlässt bei mir «Misstrost» (Unruhe, Anspannung, Unfrieden)?

 

Radikale Nächstenliebe

Franziskus – bereits der Name war Programm. Sein Namensgeber, der Poverello von Assisi, auch Bruder der Armen genannt, erfreut sich in der heutigen Zeit bei vielen Gläubigen grosser Beliebtheit. Doch war der Heilige Franziskus zu Lebzeiten ein mühsamer Zeitgenosse, der den Reichen und Mächtigen in penetranter Weise den Spiegel ihres Egoismus, ihrer Prunksucht und Selbstgefälligkeit vorhielt. Dabei lebte er eine alternative Lebensweise vor, die viele seiner Zeitgenossen vor den Kopf stiess. Stand man auf der Seite des höheren Klerus, der politischen Elite oder der wirtschaftlichen Profiteure der damaligen Zeit, konnte man mit dem Bettelmönch aus Umbrien wenig anfangen. Ein Verrückter! Eine Nervensäge! Ein Störenfried! Aber für die Menschen, die von ihm und seinen Brüdern in den Blick genommen wurden, bedeutete er alles. Der Heilige Franziskus bemühte sich um gelebte und radikale Nächstenliebe, welche die Verlierer einer Gesellschaft, die Heimat- oder Familienlosen, die Benachteiligten oder Minderbegabten ins Zentrum stellte. Das war damals für viele Leute ein Skandal.

Papst Franziskus während eines Besuchs eines Zentrums des Jesuit Refugee Services in Rom (2013).

Der Papst als Prophet

Hier zeigt sich eine Parallele zum gleich­namigen Papst. Auch Franziskus rief mit seinen Schriften und Lehren rasch die Kritiker auf den Plan. Einige von ihnen offenbarten mit ihren Kritiken aber auch die wunden Punkte unserer Welt: Wer es anstössig fand, dass der Heilige Vater für ertrunkene Migranten im Mittelmeer betete; wer sich angegriffen fühlte angesichts der Worte in der Sozial-Enzyklika «Laudato sì», worin er die Gleichgültigkeit vieler Menschen innerhalb unserer «Wegwerfkultur» beklagte; wer sich echauffierte über die Ernennung von Frauen in höchste Ämter des Vatikans oder über die Fusswaschung an weiblichen Häftlingen am Gründonnerstag, offenbarte oft ganz viel von der eigenen Innenwelt. Man wurde womöglich konfrontiert mit den eigenen (kleineren oder grösseren) Egoismen, Rassismen oder Sexismen, die man tief verinnerlicht hat. Franziskus war in dieser und anderer Hinsicht kein Wohlfühlpapst, sondern das, was man theologisch «Prophet» nennt: Jemand, der auf Unrecht, Missstände oder Fehlentwicklungen der heutigen Zeit hinweist. Dabei ging es ihm um das Reich Gottes unter uns Menschen. Es waren Aufrufe an die gesamte Menschheit zur Umkehr, der Rückbesinnung und der Sorge um «das gemeinsame Haus», unsere miteinander geteilte Welt.

 

Trost: Das Reich Gottes unter uns

Das waren für mich die starken Momente seines Pontifikats. Denn ein Kirchenoberhaupt hat genau diese Aufgabe: Das Reich Gottes zu verkündigen. Nicht als süssliches Bild von einer Märchenwelt im Wolkenreich. Sondern das Reich Gottes im Hier und Jetzt (vgl. Lukas 17,21). Und mir war klar: Dort, wo diese Hoffnung auf etwas Grösseres ohnehin keine Rolle mehr spielt, werden seine Worte verhallen oder höchstens Irritation auslösen. In vielen Ländern der westlichen Welt wurden Franziskus’ Äusserungen kritisiert. Insbesondere von Regierungen oder Konzernen, die vom status quo profitieren – teilweise auch im sogenannten «globalen Süden». Aber nehmen wir mal die Perspektive von Menschen ein, die jahrelang in Baracken, Zelten oder Wellblechhütten in einem Slum, einem Flüchtlingscamp oder einer Bürgerkriegsregion leben. Denken wir an einen Menschen, der täglich mehrere Stunden zu Fuss zur vierzehn- oder sechzehnstündigen Schicht gehen muss, am Abend aber nicht genug verdient hat, um davon dreimal am Tag zu essen.

Ich habe solche Menschen in Lateinamerika kennengelernt. Nichts hat mir mehr das Herz gebrochen, als mit jemandem zu sprechen, der seit Tagen nichts Richtiges gegessen hat. Das kennen wir schon lange nicht mehr. Es existiert aber tagtäglich in unserer Welt. Franziskus gab diesen Menschen neue Hoffnung. Eine Perspektive. Ein Licht in einem Meer von Dunkelheit. Die päpstlichen Schreiben wie «Laudato sì» oder «Fratelli tutti» wurden teils aufs Schärfste kritisiert: «Das ist ja Sozialismus!» Au contraire: Franziskus’ Worte entsprechen der katholischen Soziallehre. Die Kritiker müssen sich fragen, ob sie diese noch kennen.

Besuch von Papst Franziskus in Litauen 2018 (Litauen gehört zur zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten, zu der auch die Schweiz gehört).

Momente des Misstrosts

Es gab aber auch zahlreiche Momente des Misstrostes, der Verwunderung, der Enttäuschung oder sogar des Ärgers in den vergangenen zwölf Jahren. Und sie hängen im Wesentlichen mit seinen oft spontanen Äusserungen zu unterschiedlichsten Themen zusammen. Diese Spontaneität brachte Franziskus den wenig schmeichelhaften Titel «Spontifex» ein. Natürlich musste ich bei einigen Aussagen auch lachen. Man denke an den Hinweis, katholische Familien müssten sich «nicht wie Karnickel vermehren». Oder wenn jemand früher seine Mutter beleidigt habe, hätte dieser eine Faust abgekriegt. Über solche Aussagen echauffierten sich viele Leute – auch im Schw. StV. Sind wir aber ehrlich: Gewisse Grussworte an einem Kommers zur späten Stunde enthalten oft noch weniger rhetorische Raffinesse, als was der argentinische Pontifex an manchen Tagen von sich gab. Und auch einige seiner Gesten und Entscheidungen haben womöglich manche Gläubige genervt (man denke an sein Zimmer im Gästehaus anstatt der Residenz im Apostolischen Palast oder alte, abgelatschte Schuhe anstatt päpstlicher «Rubinpantoffeln»). Doch war all das im Grunde harmlos.

 

Alles bleibt, wie’s immer war

Für viele kippte die Stimmung, als auch den letzten Kirchenreformern klar wurde: Die Lehre wird sich unter Franziskus nicht verändern – gemeint sind primär Aspekte der Kirchenhierarchie, der Sakramente und der Sexualmoral. Zumindest nicht in einer ­Weise, wie viele zu Beginn des Pontifikats noch gedacht hatten. Viele Menschen rechneten damit, dass ein paar der grossen Elefanten im Kirchenraum angegangen würden: etwa Kommunionsempfang für wiederverheiratete Geschiedene, generelle Lockerung des Pflichtzölibats für Priester analog zu mehreren östlichen Kirchen, Anpassung der Aussagen über Sexualität, Diakonenweihe für Frauen. Es blieb in der Regel bei kosmetischen Veränderungen ohne grössere Tiefenwirkung. Natürlich kann man anerkennend feststellen, dass unter Franziskus mehrere Frauen in Schlüsselpositionen der vatikanischen Machhierarchie erhoben wurden. Auch gab es hinsichtlich der Segnung homosexueller Paare Bewegung unter dem neuen Vorsitzenden des Dikasteriums für die Glaubenslehre. Und doch blieben mehrere angestossene Prozesse unvollendet oder es wurde sogar ein «Nein» oder höchstens ein «Jetzt nicht» ausgesprochen.

 

Das Kreuz mit der Kommunikation

Erschwerend kamen Momente dazu, wo der Papst mit Äusserungen Menschen vor den Kopf stiess. Ein paar Beispiele: Keine Katholikin und kein Katholik wird die Wichtigkeit des Lebensschutzes infrage stellen. Muss man aber dafür Ärzte, die an einer Abtreibung beteiligt sind, als «Auftragsmörder» bezeichnen? Wie ernstgemeint sind Franziskus ursprüngliche Worte hinsichtlich homosexueller Menschen («Wer bin ich zu verurteilen?»), wenn er dann vor den «Schwuchteln in Priesterseminaren» warnt? Auch sein Umgang mit konkreten oder vermeintlichen «Feinden» innerhalb der Kirchenhierarchie sorgte öfters für Aufsehen, weil dieser eine Seite von Franziskus offenbarte, die nicht zum freundlichen Latino von der Benediktionsloggia («Buona sera!») passten: Herrisch, radikal, unbarmherzig. Oft nicht nachvollziehbar war für mich seine Art der Diplomatie. Es ist eine Sache, sich für Frieden in der Welt einzusetzen. Von einem Papst erwarte ich nichts anderes! Es ist aber eine ganz ­andere Sache, Aggressoren oder Angreifer nicht beim Namen zu nennen.

In seinen weltpolitischen Äusserungen blieb Franziskus oft in allgemeinen Aussagen hängen, suchte Mittepositionen, sprach teils so, als ob in jedem Krieg alle Parteien in etwa gleich viel Schuld trügen. Ein ­guter Vater muss aber erkennen, wenn eines seiner Kinder seine Kraft missbraucht, um Schwächeren Schmerz zuzufügen. Verteidiger sollten sich nicht rechtfertigen müssen, dass sie ­leben wollen.
 

P. Pascal Meyer SJ v/o Gschütz mit Papist Franziskus während einer Papstaudienz in Rom im August 2018.

Ad majorem Dei gloriam!

Und das bringt mir zu meiner ursprünglichen Frage zurück: Wie geht es mir mit dem Pontifikat von Papst Franziskus? Ich springe zurück zu seinem Namensgeber. Der Heilige Franziskus war kein einfacher Zeitgenosse. Aber er hat mit seinem Leben der Brüderlichkeit zu allen Menschen bis zum heutigen Tag hunderttausende von Menschen berührt. Viele Menschen am Tag der Beerdigung von Papst Franziskus erzählten ähnliche Geschichten: Obdachlose, die um «ihren Papst» weinten. Die Gruppe von Transfrauen, die sagten «Dank ihm sind wir ein Teil der Kirche». Vertreter anderer Kirchen und Religionsgemeinschaften, welche ihn als einen interreligiösen Brückenbauer (lat. Pontifex) bezeichneten. Oder ich selber, dessen Berufung zum Jesuiten durch die Wahl von Franziskus so richtig Fahrt aufgenommen hatte. Ja, er hat mir viel bedeutet! Natürlich musste ich immer wieder ringen mit seinen Positionen. Aber er war der Heilige Vater. Und ich stand loyal zu ihm. Klar, so wie der Heilige von Assisi ­hatte auch der Papst seine Macken und Fehler. Der Bischof von Rom verkörpert eben nicht nur Licht, sondern da ist immer auch Schatten. Franziskus wusste das – immer wieder bat er die Menschen um ihr Gebet. Jesuiten lehren, dass jeder Mensch auch Sünder ist – aber auch, dass wir als Sünder von Gott geliebt und berufen sind. Berufen, in dieser Welt eine Spur vom Reich Gottes zu hinterlassen. Nicht mit dem Ziel der Selbstheiligung oder Optimierung. Sondern zur grösseren Ehre Gottes – ad majorem Dei gloriam! Franziskus ist diesem jesuitischen Leitsatz treugeblieben. Herr, lass ihn ruhen in Frieden.

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Exkurs
Wieso Jesuit, Gschütz? 
In diesem Artikel aus dem Jahr 2021 erzählt P. Pascal Meyer SJ v/o Gschütz, was ihn dazu bewog, 2013 ins Noviziat in Nürnberg einzutreten.
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P. Pascal Meyer SJ v/o Gschütz wuchs im Sihltal auf. Nach dem KV und Militärdienst erwarb er über den zweiten Bildungsweg an der UZH einen MA in Geschichte und Kunstgeschichte. 2013 trat er in den Jesuitenorden ein. Nach einer mehrjährigen Ordensausbildung wurde er 2024 in Berlin zum Priester geweiht. Er ist Mitglied der AKV Kyburger und war im Vereinsjahr 2010/2011 Centralpräsident des Schw-StV.

 

Fotos: Societas Jesu SJ.

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