«Very well satisfied with this hotel» – Tourismus in den Schweizer Alpen

Wer um 1880 im Hotel Monte Rosa in Zermatt abstieg, genoss nach seiner Ankunft einen «Afternoon Tea», bevor er am Abend zum «Dinner» geladen wurde und den Tag im «Cigar Room» bei einem Cognac und im Austausch mit Alpinisten, Industriellen und Adligen aus ganz Europa ausklingen liess. Kein Vergleich mit der Situation 50 Jahre zuvor, als die wenigen Reisenden froh sein mussten, wenn sie in Zermatt wie überall in den Schweizer Bergen überhaupt ein Nachtlager fanden – mit anständigem Essen und einem wanzenfreien Bett. Dieser unglaubliche Aufstieg des Tourismus in den Schweizer Alpen im 19. Jahrhundert war geprägt von einer neuen Begeisterung für die Berge, von neuen Verkehrssystemen und von Pionieren, die zielstrebig den wirtschaftlichen Aufschwung auch ins hinterste Bergdorf brachten.

Clemens Fässler v/o Gral

Gletsch Anfang des 19. Jahrhunderts: was idyllisch erscheint, wurde von Reisenden als eine abgelegene und unwirtliche Gegend beschrieben, die man lieber meiden möchte. (Quelle: Privatbestand Familie H. Seiler)

Goethe in der «ödesten Gegend der Welt»

Im 18. Jahrhundert war die Schweiz mit Blick auf den Verkehr im Alpenraum hauptsächlich eine Durchgangsdestination. Eigentliche Reiseziele innerhalb der Schweiz waren die Bäderorte wie Baden, Leukerbad, Pfäfers oder St. Moritz sowie die Wallfahrtsorte, allen voran das Kloster Einsiedeln, wo schon im 18. Jahrhundert mehrere 10’000 Pilger pro Jahr gezählt wurden. Darüber hinaus gab es Bildungsreisende, Naturforscher und Literaten, die sich von der Schönheit der majestätischen Gipfel, von der reichhaltigen Alpenflora und von der urtümlichen Bergbevölkerung faszinieren liessen. Das Bild der bedrohlichen Bergwelt machte im Zeitalter der Aufklärung langsam der romantischen Idylle Platz und die Anzahl Reisender begann langsam zu steigen. Einer von ihnen war Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der während seiner zweiten Schweizer Reise im Spätherbst 1779 die Gegend am Furkapass als «die ödeste Gegend der Welt, wo man rückwärts und vorwärts auf 3 Stunden keine lebende Seele weiss» beschrieb.

«Descending the Furca», Lithographie von George Barnard, 1843. Die Bildbeschreibung lautet: «Dieser Teil des Passes ist der schlimmste vom ganzen, da er aufgrund des schmelzenden Schnees, der im allgemeinen in der Nähe des Gipfels liegt, sehr steil, rutschig und schlammig ist. Der Reisende sollte gut auf seine Schritte achten, sonst könnte er durch einige der zahlreichen Schneebrücken fallen, die der Fluss darunter bildet.» (Quelle: Privatbestand Familie H. Seiler)

Ein mit Maden gespickter Braten

Unterkünfte fanden die Reisenden in vereinzelten Herbergen, in denen aber nicht selten prekäre hygienische Verhältnisse vorherrschten. So schrieb der Berner Theologe und Naturforscher Jakob Samuel Wyttenbach (1748–1830) in seinem Buch «Reise durch das Wallisland» über einen Besuch im Wirtshaus in Obergesteln im Goms 1771:

«Man trug verschiedene Gerichte auf, die alle einen so unerträglichen und widrigen Geruch hatten, dass es unmöglich gewesen wäre, das geringste davon zu geniessen. Endlich kam der Braten: ich verschnitt ihn in der süssen Hoffnung, meinem hungrigen Magen nun etwas verschaffen zu können; aber – was war es? – ein stinkendes Murmelthier mit weissen Maden und Knoblauch durch und durch gespikt; und gleichwol meinte der Wirth, er habe diesen kostbaren Bissen schon seit drey Wochen aufgespart, um ihn bey guter Gelegenheit recht an den Mann bringen zu können. Der Salat war gewiss mit ranzigem Leinöl angemacht, einmal abscheulich, und nach Cloaken riechend. Fragen Sie ja nicht mehr, wo Hannibal seinen Essig, die Felsen der Alpen zu sprengen, hergenommen, sondern sagen nur allen Commentatoren, die sich mit dieser Untersuchung den Kopf brechen, er habe dazu Wein von Obergestelen herbeyschaffen lassen … Dennoch mussten wir etwas zu essen haben; zum Trinken floss die milchweisse Rhone an unserm Hause vorbey. Guter Rath war theuer. Wir fragten zu allem Glücke nach Eyern, die man uns nach einer Stunde, aber hart wie ein Stein gesotten, auftrug, und diese krönten unsre Mahlzeit.»

Aufschlussreich ist auch der Reisebericht des Arboner Industriepioniers Johann Heinrich Mayr (1768–1838), der 1828 für einen Kuraufenthalt nach St. Moritz reiste und von der Qualität der Unterkünfte berichtete. Nachdem er in Ragaz im Pfarrhaus eine angemessene Unterkunft fand, verdiente gemäss seinen Angaben die «Herberge» in Grüsch diesen Namen nicht. In Bad Fideris fand er sich bei gutem Essen, vorzüglichem Wein und in guter Gesellschaft wieder, was den Aufenthalt dort etwas verlängerte. Die Schlafstelle in Davos bezeichnete er als Loch. In St. Moritz schliesslich kehrte er bei Hauptmann Niklaus von Flugi (1759–1840) ein, der ihm eine saubere Unterkunft bot. Die einfache Gesellschaft und der grobe Umgang der Bevölkerung aber beliebte ihm in St. Moritz weniger, weshalb er einen Ausflug nach Samedan macht, wo er auch von der stärkenden Wirkung des aufgetischten Veltliners begeistert war.

 

Reisende als Pferdediebe oder Narren?

Abseits der Transitrouten fanden die wenigen Reisenden hauptsächlich beim jeweiligen Dorfpfarrer Obdach. Die Bevölkerung selbst verhielt sich den Auswärtigen gegenüber noch lange argwöhnisch, ja vielfach sogar feindselig, was auch der Botaniker Abraham Thomas (1740–1824) bei einem Aufenthalt in Zermatt 1790 zu spüren bekam, als man seine Reisegruppe für Schafdiebe hielt und vom Pfarrer verlangte, diese wieder aus dem Dorf wegzuweisen. Die in einfachsten Verhältnissen lebenden Bergbauern konnten nur schwer verstehen, was die Fremden in ihrer abgeschotteten Gegend überhaupt zu suchen hatten. Wie konnten sich diese feinen Herren, die in der Stadt ja alle Annehmlichkeiten hatten, in diese unwirtliche Gegend verirren? Wenn Mineralogen mit dem Hammer an Felsen klopften und sich die Taschen mit Gestein vollstopften, vermuteten sie, es seien Schatzsucher. Botaniker und Pflanzensammler wurden als Alchemisten angesehen, und die anderen waren möglicherweise Agenten einer fremden Regierung, die ihnen bald ihr Land streitig machen könnten. Die beste Meinung von den Fremden war, dass diese einfach nur Narren seien.

 

Wirtschaftspolitische Stabilität dank dem Bundesstaat von 1848

Trotzdem kamen mit dem zunehmenden Interesse an den Alpen mehr und mehr Gäste, was wiederum zum Bau erster Herbergen auch in den abgelegensten Orten führte. Bereits vor 1782 etablierte sich in Grindelwald ein Gasthof, von welchem aus die Reisenden die beiden imposanten Gletscherzungen zu besichtigen pflegten. Das Berner Oberland galt damals neben der Genferseeregion und der Innerschweiz als Hauptattraktion einer Schweizerreise. Andernorts entstanden die ersten Unterkünfte später. In Zermatt beherbergte der Dorfarzt Joseph Lauber (1787–1868) ab 1839 offiziell Gäste in seinem Wohnhaus, das er kurz darauf zu einer Herberge ausbaute. So konnte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall ein steter Zuwachs im Fremdenverkehr festgestellt werden. Diese Entwicklung war aber nicht zu vergleichen mit dem fulminanten Aufstieg, den der Tourismus in der Schweiz ab 1850 erlebte. Um diesen zu verstehen, müssen die wichtigsten Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Erstens schaffte die Schweiz mit der Bundesstaatsgründung den Schritt zu einem stabilen und einheitlichen Rechtsstaat, der mit der Abschaffung der Zölle, mit Niederlassungs- und Gewerbefreiheit sowie mit anderen wirtschaftsliberalen Bestimmungen die wirtschaftliche Entwicklung in allen Bereichen förderte oder erst richtig ermöglichte.

Hier der Bahnhof St. Gallen anlässlich der Eröffnung mit dem eigens dafür errichteten Triumphbogen, Stahlstich, 1856. (Quelle: Wikimedia)

Die Eisenbahn verändert alles

Zweitens wurde innert weniger Jahre ein Eisenbahnnetz aus dem Boden gestampft, das sämtliche grösseren Städte des Mittellandes erschloss. 1852 gaben die eidgenössischen Räte mit dem Entscheid für den privaten Eisenbahnbau das Startsignal und bereits 8 Jahre später waren 800 km Schiene verlegt. Die Eisenbahn führte in Sitten, Thun, Luzern, Glarus und Chur bis an die Alpen heran, auch wenn die Bergbahnen auf die Gipfel erst Jahrzehnte später folgen sollten. Noch wichtiger als die letzten Kilometer war aber der Anschluss an die ausländischen Eisenbahnnetze. 1863 organisierte Thomas Cook (1808–1892) erstmals eine geführte Schweizerreise von insgesamt 20 Tagen – mit Erfolg. Den ersten 8 Teilnehmern folgten noch im gleichen Jahr drei weitere Reisegruppen mit insgesamt 400 Personen durch die Schweiz. Cook zielte damit auf eine neue Kundengruppe ab, denen längere Reisen bislang nicht möglich waren. Damit ist ein dritter Grund für das touristische Wachstum genannt: die wirtschaftliche Entwicklung im Ausland. Erst die fortschreitende Industrialisierung in Kombination mit der Ausweitung der wirtschaftlichen und militärischen Macht rund um den Globus, die das Zeitalter des Imperialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichneten, schufen jenes gehobene Bürgertum, das sich eine Reise in die Schweiz und damit verbunden wochenlange Absenz vom Arbeitsalltag leisten konnte.

 

Zermatt und das «Goldene Zeitalter des Alpinismus»

Der Imperialismus zeigte sich aber nicht nur in der wirtschaftlichen Potenz der Gäste, sondern auch in ihrem Bestreben, die Berge zum Ruhm und Ehre des Vaterlandes zu bezwingen. Nicht mehr wissenschaftliche Neugier, sondern sportlicher Ehrgeiz, gepaart mit nationalem Stolz stand im Vordergrund. In diesem Sinne hielten die britischen Brüder Christopher (1827–1909), Edmund und James Grenville Smyth (1825–1907) am 15. August 1854 im Gästebuch des Hotels Monte Rosa fest: «From Saas to Zermatt by the Adler Pass […] We were the first to ascend the Strahlhorn (14’000 ft [4190 m]) with 3 Guides.» Damit läuteten sie das «Goldene Zeitalter des Alpinismus» ein. In den kommenden zehn Jahren wurden 27 der 48 Schweizer Viertausender erstbestiegen, dazu zahlreiche tiefer gelegene aber nicht minder schwierige Gipfel. Im Zentrum der Entwicklung lag Zermatt, das von 19 der genannten 27 Gipfel umgeben ist. Und in Zermatt war es das «Hôtel du Mont Rose», in welchem sich das Goldene Zeitalter des Alpinismus und darüber hinaus die touristische Erschliessung der Alpen zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg in einzigartiger Weise widerspiegelt. Ein Blick auf die Geschichte dieses Hotels und dessen Besitzer vermag also einen Eindruck für die gesamte Tourismusgeschichte und die grossartigen Pionierleistungen dahinter zu vermitteln.

Zermatt mit dem Hotel Monte Rosa auf einer Farblithographie von J. R. Dill um 1855–1857. (Quelle: Gattlen, Ortsansichten, 1987)

Das Hotel Monte Rosa als «Hauptquartier» für britische Abenteurer

Die Bezeichnung Hotel war 1854 eine etwas übertriebene Bezeichnung für das einfache Holzhaus, das für 12 Gäste ein Bett bereithielt. Sein Besitzer, der Dorfarzt Joseph Lauber, hatte es zwei Jahre zuvor Alexander Seiler (1819–1891) in Pacht gegeben, der bis dahin ein mässig erfolgreicher Seifensieder und Handelsmann aus dem Goms war. Doch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten sollt er nicht nur sein Hotel vergrössern, sondern kontinuierlich eine touristische Infrastruktur aufbauen, die zur Grundlage für den Aufstieg Zermatts vom armen Bauerndorf zum mondänen Touristenort wurde. Mit welcher Zielstrebigkeit und Arbeitskraft er dabei vorging, zeigt sich beim Blick auf die Hotelbauten. Bereits 1854 übernahm er mit seinem Bruder Franz Seiler (1827–1865) die Leitung des neuen Hotels auf dem Riffelberg auf 2566 Metern über Meer. Dieses wurde quasi zum Basislager für Bergexkursionen, während das «Monte Rosa» zu einer Art Hauptquartier der britischen Alpinisten wurde. Im selben Jahr und damit noch vor Ablauf der zweijährigen Pachtdauer kaufte Alexander Seiler von Josef Lauber das «Monte Rosa» und unverzüglich machte er sich daran dieses auszubauen. Das neue Hotel sollte nicht nur eine Unterkunft sein, sondern den wachsenden Ansprüchen der britischen Gäste gerecht werden, die zuweilen für mehrere Wochen in die Schweiz kamen. Dazu gehörte nicht nur ein grosser Speisesaal, sondern auch verschiedene Salons, wo sich die Gäste nach dem Essen bei Cognac und Zigarre verwöhnen konnten oder wo ihnen Zeitschriften aus aller Welt, wissenschaftliche Bücher und Reiseführer bei schlechtem Wetter die Zeit vertrieben. Mit dem neuen Steinbau konnte Seiler 35 Gäste beherbergen, die das Hotel und die Hotelleitung in Gästebucheinträgen und Reiseberichten fortan in den höchsten Tönen lobten. So schrieb ein englischer Gast bereits 1855 ins Gästebuch: «Were very much pleased with the accommodation afforded by and with the attention of M. Seiler. Very well satisfied with this hotel.»

Alexander Seiler inmitten von Gästen, Bergführern und Angestellten, 1882. Ohne Bergführer, die den Gästen den Weg zu den Gipfeln zeigten und die Seilschaften anführten, wären die zahlreichen Erstbesteigungen ebenso wenig denkbar gewesen wie der Aufschwung der Hotellerie ohne das Heer von billigen Arbeitskräften. (Quelle: Privatbestand Familie H. Seiler)

Ein Grand Hotel auf 2222 Metern

In den 1860er-Jahren folgten in beiden Hotels grössere Ausbauschritte und zudem konnte Seiler das ehemalige Konkurrenzhotel Mont Cervin am Dorfrand von Zermatt kaufen. Mit bereits 170 Betten erreichte Seiler damit die unangefochtene Vormachtstellung im Zerrmatter Gastgewerbe, die er bis zu seinem Lebensende innehaben sollte. Doch der Ausbau der Hotels ging weiter voran. Es begann die Zeit der Grand Hotels in den Alpen, die in Grösse und Komfort die bisherigen Standards weit hinter sich liessen. Als erstes wurde das Hotel Mont Cervin zu einem Grand Hotel ausgebaut, indem die Bettenzahl auf 180 verdreifacht wurde. Als weitere Pacht kam 1879 das von der Burgergemeinde errichtete Grandhotel Zermatterhof mit 150 Betten hinzu. Der Höhepunkt bildete aber die Eröffnung des Grand Hotels Riffelalp auf 2222 Metern über Meer, ebenfalls mit 150 Betten. An der prächtigen Eröffnungsfeier am 10. Juli 1884 wurden die illustren Gäste mit frischem Lachs aus der Nordsee verwöhnt – Symbol für die Auswirkung und die Bedeutung des internationalen Bahnverkehrs für den Alpintourismus. Der Erfolg dieses vornehmen Gebirgshotels war so gross, dass bereits wenige Jahre nach der Eröffnung eine Erweiterung um 50 Betten stattfand. Zusammen mit weiteren Erweiterungen verfügte Alexander Seiler in seinem Todesjahr 1891 in Zermatt über knapp 750 Betten.

Alexander und Catharina Seiler mit den drei jüngsten Töchtern Amanda, Katharina und Bertha, 1890. (Quelle: Privatbestand Familie H. Seiler)

Die Frau als Pionierin

Der Auf- und Ausbau dieses Hotelreiches schaffte Alexander Seiler nicht allein. Zunächst waren es seine Brüder Josef (1817–1863) und Franz, die ihn unterstützten und auch ermutigten. 1857 heiratete er die 15 Jahre jüngere Catharina Cathrein, die ihm künftig nicht nur zur Seite stehen, sondern zur Seele des Unternehmens werden sollte. Sie führte das operative Tagesgeschäft der Hotels weitgehend selbstständig und erledigte sämtliche Korrespondenz, während Alexander Seiler sich hauptsächlich um die Versorgung und die Erweiterung der Hotels kümmerte. Als «Mama Seiler» pflegte sie nicht nur mit den Angestellten einen liebevollen Umgang, sondern kümmerte sich auch persönlich um die Gäste, wenn etwa Sonnenbrände oder kleine Verletzungen diese plagten. Ihre führende Stellung zeigte sich nach dem Tod Alexander Seilers. Nicht etwa die ältesten Söhne übernahmen die Hotelgeschäfte mit den fast 600 Angestellten, sondern Catharina Seiler wurde als alleinige Geschäftsführerin eingesetzt. Dabei legte sie denselben Unternehmergeist an den Tag wie ihr Mann. Sie baute die Hotels weiter aus, förderte die Einführung des elektrischen Lichts in Zermatt und erreichte in zähen Verhandlungen die Erneuerung der Pacht für die gemeindeeigenen Hotels Zermatterhof, Riffelberg und Gornergrat. Neben ihrem täglichen Einsatz an vorderster Front des Hotelgeschäfts wurde Catharina Seiler Mutter von 16 Kindern, denen Sie eine liebevolle und fürsorgliche Mutter war.

Zermatt um 1870 mit den beiden grossen Hotels Mont Cervin (rechts) und Monte Rosa (links davon). Ölgemälde. (Quelle: Privatbestand Familie H. Seiler)

1400 Schafe, 200 Ochsen und 150 Kälber in einer Saison

Die Geschichte der Seiler-Hotels unter Alexander und Catharina Seiler erscheint als eine einzige Erfolgsgeschichte. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Erfolg alles andere als selbstverständlich war. So war der Erfolg nicht jedem Hotel in Zermatt vergönnt, sondern Konkurse und Übernahmen kamen ebenfalls vor. Schliesslich zeigt die Tatsache, dass sich für die gemeindeeigenen Hotels kaum Pächter fanden und die Burgergemeinde die Hotels deshalb eher widerwillig der Familie Seiler in Pacht gab, dass der Hotelbetrieb mit grossen Herausforderungen verbunden war. Zu den grössten zählte die Versorgung. Denn was nicht vor Ort produziert werden konnte, musste über 35 Kilometer und 1000 Höhenmeter von Visp herangeschafft werden, zumeist per Maultier. Um die Grössenordnung klarzumachen: Um 1890 benötigten die Seiler-Hotels in einer einzigen Sommersaison rund 1400 Schafe, 200 Ochsen und 150 Kälber.

 

Hotelpionier im Einsatz für Strasse und Eisenbahn

Man wird der Bedeutung Alexander und Catharina Seilers als Pioniere nicht gerecht, wenn man den Blick nur auf ihre Hotels wirft. Denn dank des aufkommenden Tourismus entwickelte sich die gesamte Wirtschaft. Auch beschränkten die Seilers ihre Tätigkeit nicht nur auf die Hotellerie. So wurde Alexander Seiler als Mitglied des Grossen Rates des Kantons Wallis 1869 zum Leiter des Strassenbaus im oberen Mattertal gewählt. Auch der Telegraph kam 1871 nach Zermatt, weil sich Alexander Seiler bei den Gemeinden für den Anschluss einsetzte und im Hotel Monte Rosa ein Zimmer als öffentliches Telegraphenbüro einrichtete. Er wurde denn auch zum Leiter des Telegraphenbüros Zermatt gewählt. Seine Nachfolgerin war übrigens Catharina Seiler. Damit stand das kleine Bergdorf zuhinterst im Mattertal plötzlich in unmittelbarem Austausch mit der Aussenwelt, ein infrastrukturtechnischer Quantensprung, der 20 Jahre zuvor wohl völlig utopisch erschienen wäre. Nochmals 20 Jahre später schaffte Zermatt den nächsten Quantensprung und wiederum war Alexander Seiler eine treibende Kraft: Wenige Tage vor seinem Tod fuhr am 6. Juli 1891 der erste Eisenbahnzug in Zermatt ein, was mit einem pompösen Fest im Seiler-Hotel Mont Cervin gefeiert wurde.

 

Damit war Zermatt nicht nur von Visp aus mit dem Zug erreichbar, sondern auch von Paris oder London, von wo an nun jährlich mehr und mehr Gäste herbeiströmten. Die Hotelpaläste wurden folglich auch in Zermatt grösser, bald schon erstrahlte elektrisches Licht in den prunkvollen Speisesälen und noch vor der Jahrhundertwende fuhr eine Zahnradbahn die Touristen auf den Gornergrat. In der Belle Époque fand der touristische Aufschwung in Zermatt, aber auch in den anderen Touristendestinationen wie St. Moritz oder Gstaad seinen grandiosen Höhepunkt, bevor er im Pulverdampf des Ersten Weltkriegs unterging.

Postkarte von St. Moritz-Dorf mit Tram vom 10. September 1913. (Quelle: Museum Schweizer Hotellerie und Tourismus)

 

Ad personam

Clemens Fässler v/o Gral (*1987), Historiker und Gymnasiallehrer, ist Geschäftsführer des Vereins für wirtschaftshistorische Studien (www.pioniere.ch), Bezirksrat von Gonten und freischaffender Journalist für Lokalmedien und Wirtschaftsverbände. Der ehemalige Schweizergardist studierte Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Politikwissenschaft und Latein an der Universität Zürich, wo er auch das Lehrdiplom für Maturitätsschulen erwarb. Er ist Altherr der GV Rotacher, der AV Helvetia Romana und der AV Turicia.

 

 

 

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Buchhinweis
Der vorliegende Text stützt sich namentlich auf das neue Standardwerk von Joseph Jung v/o Matt zur Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert sowie auf den neusten Band der Reihe Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik von Stephan Seiler:

  • Joseph Jung: Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2020. Details
  • Stephan Seiler: «Alexander und Catharina Seiler. Von einfachen Herbergen zu stilvollen Grand Hotels in Zermatt und Gletsch», Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Bd. 122, hrsg. vom Verein für wirtschaftshistorische Studien, Zürich 2024. Details
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