Sich treu bleiben

«Verlässlichkeit, Stil und Humor» sollen jeden Semper Fidelen ein Leben lang begleiten, formulierte der damalige AHP Erich Schibli v/o Diskus im Vorwort der Festschrift zum 175-Jahre-Jubiläum der AV Semper Fidelis. Aber was heisst das? Die nachfolgenden Gedanken waren Teil der Festrede vom 29. Dezember 2023 am Neujahrskommers der Semper Fidelis Luzern.

 

von Bruno Staffelbach

 

Nicht zum ersten Mal leben wir in einer Welt, die droht, aus den Fugen zu geraten. Wann immer Menschen in solchen Zeiten beginnen, ihre Zukunft zu planen, schüttelt im Hintergrund das Schicksal verständnislos den Kopf! 1912 soll Kaiser Wilhelm II gesagt haben: «Ich glaube an die Zukunft des Pferdes, das Auto ist eine vorübergehende Erscheinung!» Fünf Jahre später durchbrachen Panzer seine Schützengräben. Die Generäle richteten ihre Armeen auf Offensive aus und scheiterten im Grabenkrieg. Und dabei entschied letztlich nicht die militärische Kompetenz, sondern die industrielle Kapazität. Die Zukunft kommt immer – aber oft anders als man denkt, und deshalb auch immer wieder ähnlich, wie etwa heute in der Ukraine.

Die aktuellen Entwicklungen bei uns heissen zum Beispiel Digitalisierung, Beschleunigung und Migration. Es sind Megatrends. Beschleunigung heisst, dass zwei Drittel unserer Schulabgängerinnen und Schulabgänger in Berufen pensioniert werden, die es heute noch gar nicht gibt. Digitalisierung bedeutet auch Vereinsamung. Die Beanspruchung des Sorgentelefons bricht heute alle Rekorde. Und solange die Hälfte der Mitglieder des 15-köpfigen UNO-Sicherheitsrates selbst im Krieg steht, wird auch die kriegsbedingte Migration nicht zurückgehen. Diese Megatrends sind wie Tsunamis von IKEA-Einrichtungen ohne Bau- und Gebrauchsanleitungen. Sie treffen auf gescheite Menschen, die dumme Fehler machen.

Denn auch gescheite Menschen beurteilen Lagen falsch, sie planen schlecht und sie lassen sich überraschen. Zum Beispiel lassen sie sich davon leiten, wie ein Problem dargestellt wird. Ein Ereignis mit 90% Überlebenden wird besser eingeschätzt als ein Ereignis mit 10% Verlusten. Gewinn- oder Verlustpartien nehmen wir anders wahr, auch wenn der statistische Erwartungswert gleich ist. Menschen sind auch schlechte Informationsverarbeiter. Beliebt sind Informationen, die günstig und leicht verfügbar sind. Oft werden dann Informationen zur Begründung eines Entscheides benutzt, der unbewusst bereits gefallen ist, statt, dass man die Informationen prüft und zu Nachrichten macht, die man anschliessend zum Entwickeln von Entscheidungsoptionen braucht. Man hört eben lieber was einem passt, als was stimmt! Menschen neigen auch dazu, sich zu überschätzen, vor allem nach einer Serie von Erfolgen. Das zeigt die Wirtschaftsgeschichte mit ihren Blasen, die Militärgeschichte in vielen Schlachten und die Logik: 50% der Akteure gehen als Verlierer vom Platz. Zudem ist der Mensch ein schlechter Zeitmanager, denn er ist vergesslich, er unterschätzt den Aufwand und er findet die Gegenwart wichtiger als die Zukunft.

Kombiniert man nun die Mehrdeutigkeit, Unberechenbarkeit und Eigengesetzlichkeit der Welt mit der Vergesslichkeit, der Selbstüberschätzung und den Denkfehlern des Menschen, so entsteht daraus eine gefährliche Mixtur von Illusionen, Risiken und Verletzlichkeiten. Und hier bietet sich die Chance für die Semper Fidelis – einfach, indem sie das tut, wofür sie steht. Das ist nicht wenig! Es sind die Inhalte der drei folgenden Abschnitte. Sie kreisen um die drei Worte «Verlässlichkeit, Stil und Humor» des früheren Altherrenpräsidenten Erich Schibli v/o Diskus.

 

Die Verlässlichkeit der Gemeinschaft

Wir leben in einer Gesellschaft, die zunehmend durchprofessionalisiert wird. Auch wenn «Profi» eigentlich nicht eine Frage des Arbeitsvertrages ist, sondern eine der persönlichen Kompetenz, wird es offenbar immer schwieriger, Milizkarrieren in Politik, Armee, Kultur und Sport mit beruflichen Karrieren unter einen Hut zu bringen. Das ist ein typisches soziales Dilemma: was für die Gesellschaft gut ist, ist für den Einzelnen nicht gut, und was für den Einzelnen gut ist, ist für die Gesellschaft nicht gut. Also braucht es Brückenbauer, die zwischen individuellen und kollektiven Interessen vermitteln, die zu persönlichem Engagement ermuntern und die opportunistische Eskapaden disziplinieren. Dafür sind Verbindungen im Allgemeinen und die Semper Fidelis im Besonderen Beispiel und Vorbild.

Gemeinschaften sind aber nicht nur Vermittlungsagenturen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen, sondern sie sind auch Versicherungen zur Reduktion von Risiken. Miteinander kann man mehr erreichen und im Miteinander ist der Einzelne sicherer. Auch stammesgeschichtlich sind wir nicht Einzelgänger, sondern Rudeltiere, die kooperieren.

Kooperation hat einen Wert. Verlässt ein Mitarbeiter ein Unternehmen, fallen Wiederbeschaffungskosten an. Diese betragen je nach Funktionsprofil und Arbeitsmarktlage mehrere Monatssaläre. Die Wiederbeschaffungskosten ganzer Belegschaften hingegen betragen mehrere Jahressaläre. Die Differenz zwischen den individuellen und kollektiven Wiederbeschaffungskosten zeigt, dass 50 Musiker noch kein Orchester, 11 Spieler noch keine Fussballmannschaft und eine Handvoll Experten noch keinen Betrieb ausmachen. Entscheidend ist das Team. Attraktiv für ein Team ist, wer gibt, und nicht, wer nimmt. Auch aus der betriebswirtschaftlichen Forschung wissen wir: Unternehmen mit Geber-Kulturen sind erfolgreicher als Unternehmen mit Nehmer-Kulturen. Für Einzelkämpfer, Kleingeister und Privatiers gibt es in Gemeinschaften keinen Platz. Diese sind nur loyal zu sich und ihrer Position – wie Robinson Crusoe auf seiner Insel. Robinsons sind gut für die Inseln, aber nicht für die Zusammenarbeit. Zusammenarbeit braucht Teamgeist und Teamgeist bedingt Vertrauen. Das Gegenteil davon – Misstrauen und Verunsicherung – ist schlecht für uns, für die Wirtschaft, für die Gesellschaft. Es bindet Ressourcen, reduziert Investitionen, bremst das Engagement und schwächt die Solidarität.

Die Kameradschaft ist der Prototyp einer solidarischen Gemeinschaft. Man kann sie nicht aussuchen, sondern sie entsteht, weil man im gleichen Zimmer, in der gleichen «camera», zusammenkommt. Aber Achtung: nicht jede Kameradschaft ist gut! Auch Radikale, Hooligans und Mafiosi haben ihre Kameradschaft. Wir brauchen also etwas, welches das Gute einer Kameradschaft beschreibt. Dafür gibt es Geschichten.

 

Stilformung durch Geschichten

Menschen brauchen Geschichten. Es gibt die Geschichte vom todkranken Patienten, der nicht wusste, woran er krank war. Als er vom Arzt «moribundus» (lateinisch, bedeutet «todgeweiht») hörte, aber kein Latein verstand, meinte er das sei die Diagnose. Glücklich darüber, dass die Medizin nun endlich weiss, woran er erkrankt war, wurde er gesund, verliess nach zwei Wochen das Spital und ging nach Hause. Menschen brauchen und wollen Sinn, Deutungen, Erklärungen – selbst, wenn diese nicht zutreffen. Aber was heisst «zutreffen»? Aus der Forschung wissen wir: auch Placebo-Effekte sind real! Und so ist es mit Stories, mit Geschichten, mit Mythen. Sie transportieren Botschaften. Ob die Geschichte an sich wahr ist, ist sekundär. Entscheidend ist, was sie sagt. Ist der Schiller’sche Wilhelm Tell historisch echt? Kommt doch nicht darauf an! Wilhelm Tell ist einfach eine gute Geschichte – wie auch die Geschichte von Arnold Winkelried, der Kappeler Milchsuppe oder Gilberte de Courgenay!

Wir brauchen Geschichten. Sie illustrieren Wünsche, sie beschreiben Vorbilder und sie vermitteln Qualitätskriterien guten Lebens – so auch die Geschichte der Semper Fidelis.

 

Humor

Studentenverbindungen sind Brückenbauer. Brücken haben es aber an sich, dass sie quer zum Mainstream stehen. Mainstream zeigt sich in der Politik, wo eine Vielzahl Wahrheit mit Mehrheit verwechselt, in der Wissenschaft, wo vor lauter Wahrheitssuche die Wirklichkeit zu kurz kommt oder in unserem Alltag, wo wahr ist, was uns lieb ist. Aber wo alle das Gleiche denken, wird wenig gedacht. Da braucht es ein Korrektiv – jemand, der uns den Spiegel vorhält. Das sind der Narr, der Witz und das Lachen. Der Narr darf Grenzen sprengen, die Oberen piesacken und die Mächtigen provozieren. Wir sagen dann, «der hat eine Schraube locker». Aber damit bekommt das Leben mehr Spiel!

Wir haben Freude und wir lachen, weil wir hier jetzt so zusammen sind. Wir lachen, wenn wir jemanden grüssen, uns verabschieden, flirten oder schwatzen, in Momenten von Glück und Freude, aber auch bei Schmerz, Hilflosigkeit oder Erstaunen. 80% unseres Lachens hat nichts mit Humor zu tun. Aber wenn’s dann nichts mehr zu lachen gibt, brauchen wir Humor! Lachen ist ansteckend. Wer lacht wirkt befreit und Lachen ist gesund.

Mit ihrer Geschichte, mit ihrer Gemeinschaft und mit dem, wofür sie steht, baut die Semper Fidelis Brücken – Brücken zwischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen, zwischen Wilhelm Tell und heute und zwischen Freiheit und Gebundenheit. Dafür gebührt ihr Dank. Tun Sie das, wofür Sie stehen. Das klingt einfach, ist aber nicht wenig. Und es ist nicht immer leicht. Denn Brücken haben es an sich, dass sie quer zum Mainstream stehen.

 

Aber es gibt ein paar wichtige Brückenpfeiler.

  • Auf dem ersten Pfeiler steht: Die Zukunft kommt immer – aber oft anders als man denkt. Wenn Plan A nicht funktionieren sollte: keine Sorge. Das Alphabet hat noch 25 andere Buchstaben – oder aber man sucht Hilfe in einer tragenden Gemeinschaft wie der Semper Fidelis.
  • Auf dem zweiten steht: Attraktiv ist wer gibt, nicht wer nimmt. Ein echter Profi ist hilfsbereit, der Amateur hat Freude an sich selbst.
  • Auf dem dritten steht: Wir brauchen gute Geschichten – nicht wie sie sich zugetragen haben, sondern was sie uns sagen.
  • Und auf dem vierten Brückenpfeiler steht: Dummheit kennt keine Grenzen, aber viele Leute. Gut, gibt es Narren, die dem Leben mehr Spiel geben, indem sie die Schrauben lockern.

 

 

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Zur Person Bruno Staffelbach

Bruno Staffelbach, Prof. Dr., Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre, Direktor Center für Human Resource Management und Rektor der Universität Luzern. Ehemaliger Kommandant einer Infanteriebrigade und Ehrenmitglied des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes.