1848 war der Beginn eines Wunders – auch dank dem Studentenverein

Bundesrätin Karin Keller-Sutter v/o Courage zu 175 Jahren Bundesverfassung: Dies ist eine durch Dominik Feusi v/o Caritas (Nebelspalter AG) gekürzte und redaktionell aufbereitete Fassung ihrer Festrede anlässlich des Festakts am Zentralfest in Wil vom 3. September 2023. 

 

Am 12. September jährt sich zum 175. Mal die Annahmeerklärung der Bundesverfassung durch die Tagsatzung. Seit 175 Jahren ist die Schweiz unsere Schweiz. Wie klug die Revisionskommission bei der Ausarbeitung der Verfassung vorging, zeigt sich unter anderem am Umstand, dass das Werk nur gerade zwei Mal einer Revision bzw. Nachführung unterzogen wurde. Und es zeigt sich auch daran, dass unser Land auch heute noch auf den Grundlagen steht, die vor 175 Jahren gelegt wurden.
Es hätte auch anders kommen können: Wenn sich die Sieger des Sonderbundskrieges nicht von Anfang an bewusst gewesen wären, dass es auch einen Ausgleich braucht. Wenn sie der Versuchung erlegen wären, die Idee der Nation über alles zu stellen.

 

Die Demut der Sieger

Es brauchte in der historischen, ja revolutionären Situation, in der sich die Schweiz befand, schon viel Weitsicht, einer solchen Versuchung nicht zu erliegen und einen Staat zu gründen, in dem auch und gerade seine Gegner ein neues Zuhause finden konnten. Es brauchte Weitsicht, sich für eine föderale Ordnung zu entscheiden und ein Zweikammersystem zu schaffen, das auch den katholisch-konservativen Kantonen in Bern eine gewichtige Stimme gab. Wobei Weitsicht eigentlich der falsche Begriff ist. Vielleicht sollte man eher von Demut sprechen. Und es wäre auch eine Verkürzung der Geschichte zu behaupten, der innerstaatliche Konflikt sei ein rein konfessioneller gewesen. Im Gegenteil. Es waren gerade liberale Katholiken, die der ersten Bundesverfassung letztlich zum Durchbruch verholfen haben.
Man kann den Liberalen, gleich welcher Konfession, den Stolz nicht nehmen, die moderne Schweiz geschaffen zu haben. Den Stolz vor allem darauf, einen Staat gegründet zu haben, der die Vielfalt ehrt und die Minderheiten schützt. Einen Staat, der die Macht teilt und den Ausgleich schafft.

 

 

 

Die Geschichte einer Annäherung

Die Sonderbundskantone wollten diesen Staat in dieser Form ursprünglich nicht. Aber die meisten haben ihn, als er einmal da war, nicht weiter bekämpft, sondern geduldet. Mehr noch: Sie haben sich auf den Weg gemacht, diesen Staat auch zum ihrigen zu machen. Und heute ist er tatsächlich auch der ihrige. Dass diese Geschichte der Annäherung derart erfolgreich sein würde, dass es gelingen würde, die revolutionären Gräben zuzuschütten, das konnte man 1848 nicht einmal erhoffen.
So bleibt denn 1848 ein Wunder, oder vielmehr der Beginn eines Wunders, das mittlerweile 175 Jahre andauert. Und dass dieses Wunder geschehen konnte, daran hat der Schweizerische Studentenverein (StV) einen wichtigen, einen entscheidenden Anteil.
Geschichte besteht nur aus Geschichten, wenn man aus ihr nicht Lehren zu ziehen versucht. Der StV hat, Wesentliches zur gesamteidgenössischen Versöhnung beigetragen. Er war, wie man neudeutsch sagt, am «Nation Building» erfolgreich mitbeteiligt.

 

Ein Land aus Minderheiten

Dieses Projekt war ein anspruchsvolles in einem Land, das soeben einen Bürgerkrieg durchgemacht hatte und das im Grunde aus einer Vielzahl von Minderheiten – konfessionellen, sprachlichen, kulturellen – besteht, die vor allem auch durch historische Zufälle zueinander gefunden haben. Es brauchte und braucht den Willen, ein Land zu sein, aus der Vielfalt die Einheit zu schaffen, ohne die Vielfalt zu verlieren.
Dieses Projekt Schweiz war stets Gefährdungen ausgesetzt. Ich denke namentlich an die Zeit des Ersten Weltkriegs. Die wichtige, mahnende Rede von Carl Spitteler zum Zusammenhalt der Sprachregionen von 1914 dürfte Ihnen bekannt sein. Ich denke auch an den Generalstreik von 1918.
Aber ich denke auch an das Hier und Jetzt. Ich will nicht sagen, dass die Schweiz gespalten wäre. Das wäre überzogen. Und man kann Spaltung auch herbeireden. Aber ich stelle doch gewisse Risse in der schweizerischen Öffentlichkeit fest. Befeuert wurde diese Entwicklung durch die verschiedenen Krisen, die wir durchlaufen haben oder noch durchlaufen: Corona-Krise, Ukraine-Krieg, Energie-Krise, Inflation, CS-Krise und – quasi als Dauerkrise – der Klimawandel.

 

 

Krisen verunsichern

Man muss Verständnis dafür haben, dass diese Krisen Menschen verunsichern. Man hat den Eindruck, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. So ging es vielen in der Corona-Krise. Das wirkt bedrohlich. Oder denken sie an den Ukraine-Krieg. Ganz offen wurde da von einer Nuklearmacht über den möglichen Einsatz von Atomwaffen gesprochen. Auch das wirkt bedrohlich.
Ihren Widerhall findet diese Verunsicherung in den sozialen Medien. Der Ton ist bisweilen aggressiv und diffamierend. Es wird gerne auf die Frau oder den Mann gespielt. Und unsere schweizerischen Institutionen werden bisweilen verächtlich gemacht oder frontal angegriffen.
Es wäre historisch falsch, die Vergangenheit zu verklären. Man kann nicht behaupten, der Umgangston in der Eidgenossenschaft sei früher immer sanft und anständig gewesen. Wer einmal Parteizeitungen aus dem letzten oder gar vorletzten Jahrhundert gelesen hat, weiss das. In der politischen Debatte wurden stets auch andere Wurfgeschosse als Wattebäuschen benutzt.
Dennoch halte ich die von mir beschriebene Tendenz für bedenklich. Sie rüttelt an den Grundfesten unseres Zusammenlebens. Sie betont das Trennende, nicht das Einigende. Sie schliesst den Kompromiss als Kern unseres politischen Systems a priori aus. Das ist gefährlich.
Man sollte aber auch nicht dramatisieren. Die Gesellschaft als Ganzes ist in unserem Land nicht in ihren Grundfesten erschüttert.

 

Die gesellschaftliche Mitte

Dass das so ist, verdanken wir den starken Institutionen in unserem Land. Hier schliesst sich gewissermassen der Kreis zu 1848. In allen diesen herausfordernden Situationen gezeigt hat sich nämlich gezeigt, dass unsere Institutionen funktionieren und dass wir handlungsfähig sind.
Getragen werden diese Institutionen von einer breiten Mitte. Ich meine das nicht parteipolitisch. Ich meine vielmehr eine breite gesellschaftliche Mitte, die Verantwortung zu übernehmen bereit ist, sich konstruktiv einbringt und in welcher der Kompromiss nicht als Zeichen der Schwäche, sondern als Zeichen politischer Reife gilt. Diese gesellschaftliche Mitte ist es, die unserem Staat Kraft verleiht, ihn trägt und ihn widerstandsfähig macht.
Aber vorauszuschauen heisst eben auch, Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, bevor sie sich in einer echten Krise entladen. Deshalb muss man diese Entwicklungen, die ich beschrieben habe, ernst nehmen.
Was ist zu tun? Wir alle müssen der Diskussions- und Konsenskultur unseres Landes Sorge tragen. Gespräch und Respekt bleiben zentral. Das heisst nicht, dass man eigene Überzeugungen nicht vertreten sollte, im Gegenteil. Aber man sollte das auf eine Art und Weise tun, die der Möglichkeit des eigenen Irrtums stets angemessen Rechnung trägt. Und man sollte seine Forderungen immer so stellen, dass ein Kompromiss möglich bleibt.
Wer sich im politischen Leben darauf versteift, recht zu haben, kommt nicht weit. Tragfähige Lösungen zu finden, setzt stets voraus, ein breites Meinungsspektrum einzubinden.

 

Die politische DNA der Schweiz

Das ist im Grunde die politische DNA der Schweiz. Ihr müssen wir Sorge tragen. Jede und jeder einzelne von uns. Diese Verantwortung kann man nicht delegieren. Wem an diesem Land liegt, der kann nicht tatenlos zusehen, wenn die politische Diskussion verroht.
Auch der Studentenverein trägt diese ausgleichende DNA des Gemeinsinns in sich. Er hat stets den Zusammenhalt betont und nicht die Spaltung. Vielleicht könnte man es auf den Punkt so formulieren: Die Schweiz braucht mehr vom Geist des StV.
Und diesen Geist wollen wir hier in Wil gemeinsam feiern. Vivat, crescat, floreat!